Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Die Neurochirurgie hat in den vergangenen Jahren eine enorme Entwicklung durchlaufen. Schon in den 1960er-Jahren gab es einen berühmten Chirurgen, Gazi Yasargil, dem es als Erstem gelang, Millimeter große Gefäße zusammenzunähen. Dies gilt als die Geburtsstunde der Mikrochirurgie. Erste Anwendungsgebiete waren die Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und die Neurochirurgie.
Wir sprechen in der Chirurgie von mikrochirurgischen und von minimalinvasiven Eingriffen. Was sind die Unterschiede?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Unter den Begriff Mikrochirurgie fasst man, vereinfacht gesagt, alles zusammen, was mithilfe eines Mikroskops operiert wird. Dagegen ist die Bezeichnung „minimalinvasiv“ ein eher fließender Begriff. Es wird versucht, den Schaden am Patienten bei den Zugängen zu den Operationen möglichst gering zu halten. Ein Beispiel: Man will diesen Tumor entfernen, kann dabei großen Erfolg haben und der Patient ist trotzdem gestorben. Das heißt, bei minimalinvasiven Eingriffen geht es darum, im Prozess der Operation normales Gewebe zu schonen.
Die heute mikrochirurgisch durchgeführten Eingriffe gelten als schonender als früher, insbesondere für ältere Patienten. Was genau ist hier der Effekt der Mikrochirurgie?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Kleine Öffnungen, kleine Zugänge, schonende Gewebedurchgänge zu anderen Strukturen – darauf kommt es an. Und das ist auch die Brücke zu unserer Innovation. Der Chirurg muss die Ziele des Eingriffs visualisieren, und die sind ja im Normalfall nicht sichtbar. Er kann zwar Oberflächenstrukturen sehen, aber nicht unter die Oberfläche schauen. Mit dieser Innovation machen wir das Unsichtbare sichtbar. Minimalinvasiv bedeutet im Prinzip ja auch, Dinge zu erkennen, die mit dem bloßen Auge nicht sichtbar sind: Gefäße, die durchblutet sind, was ist Tumor, was ist nicht. Auch Funktionen im Gehirn, die wir mit dem bloßen Auge nicht erkennen, werden durch diese neue Technologie, das robotische Visualisierungssystem, sichtbar. KINEVO ist ein ganzes Innovationspaket, eine Plattform, die die Neurochirurgie auf die nächsthöhere Stufe hebt – ein enormer Qualitätssprung, vergleichbar mit dem Sprung vom einfachen Mobiltelefon zum Smartphone mit seinen vielen Assistenzfunktionen.
Stellen Sie bitte die einzelnen Elemente Ihrer Innovation dar. Was genau gehört dazu?
Frank Seitzinger, MBA
Unser Ziel war es, eine komplett neue Plattform zu generieren, die uns in die Zukunft begleitet. Damit wurde das Feld für viele neue Richtungen geöffnet, und in diesem Umfeld sind rund 100 einzelne Innovationen entstanden. Drei davon sind besonders hervorzuheben.
Erstens steht dem Chirurgen ein Roboter zur Verfügung. Der Operateur kann das System sehr einfach in die für seine Arbeit beste Position bringen. Zudem erlaubt uns die Robotik, dass wir anstatt eines mechanisch balancierten ein geregeltes System in allen Achsen haben. Damit wird eine Schwingungsdämpfung erzeugt, die das System auf der einen Seite so fest macht wie einen Fels, wenn dies beim Eingriff gebraucht wird, und gleichzeitig so leicht wie eine Feder, denn der Chirurg kann die enorme Masse sehr einfach bewegen, ja sogar mit den Zähnen steuern.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Lassen Sie mich das Technische kurz übersetzen. In der Neurochirurgie wird der Patient auch mit dem Kopf fixiert. Er liegt millimetergenau stabil, und das Mikroskop, durch das man die ganze Zeit schaut, darf keinesfalls instabil sein. Das muss stehen wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. – das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite muss das Mikroskop in den verschiedenen Situationen bewegt werden können, mal von hier nach da, mal umgekehrt, quasi wie eine Feder. Weil man es mit dem Mundstück steuern kann, können die Hände des Operateurs am Körper bleiben, er kann weiter operieren, auch wenn der Fokus nachgestellt wird. Für den Patienten hätte es Nachteile, wenn der Operateur nach mehreren Stunden ermüdet wäre. Man muss sich so hinsetzen, dass man praktisch so etwas wie einen Langstreckenflug nach Chicago – ohne aufzustehen – durchhält und trotzdem seine beste manuelle Leistung bringt.
Frank Seitzinger, MBA
Die Robotik hat weiterhin die Funktion, dass gespeicherte Positionen angefahren werden können. Über ein Navigationssystem extern unterstützt, wird der Operateur genau an die Stelle geführt, an der er einen Zugang legen will. Das heißt, das robotische System weiß, in welche Position es sich zu bewegen hat.
Die zweite hervorzuhebende Innovation ist die hybride Funktion des KINEVO 900, die eine okularbasierte oder eine digitale Darstellung zur Visualisierung des OP-Feldes bietet. So kann der Chirurg abhängig vom Eingriff entscheiden, ob er einen klassischen mikroskopischen Ansatz wählt oder ob er, beispielsweise aus ergonomischen Gründen, auf den exoskopischen Ansatz umstellt. So kann er sitzend oder stehend in einer aufrechten Position am Monitor arbeiten und Extrempositionen, die sehr ermüdend sind, besser vermeiden. Durch den Schritt zur digitalen Technologie werden neue Möglichkeiten eröffnet, da aus den Pixelwerten der Kamera zusätzliche Informationen entnommen werden können, um das zu sehen, was bisher verborgen ist.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
In diesem digitalen Umfeld kann man Daten miteinander verschmelzen, und daraus lässt sich für die Applikation ein weiterer Mehrwert erzielen. Informationen in den einzelnen Pixeln können mit prä- und intraoperativen Daten augmentiert werden, um den Chirurgen bessere intraoperative Informationen zur Verfügung zu stellen, und zwar genau dann, wenn sie gebraucht werden. Zu diesem Zweck arbeiten wir mit unseren Partnern im akademischen und im klinischen Umfeld zusammen, um herauszufinden, welche Daten wir herausziehen und nutzen können. Und das macht die Digitalisierung erst möglich.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Über die Infrarottechnologie von INFRARED 800 – das ist eine weitere Fluoreszenzoption – ist es uns klinisch möglich, den Blutfluss intraoperativ zu erkennen, was in einer vaskulären Behandlung sofortige Rückmeldung an den Arzt gibt, ohne dass zusätzliche komplizierte Messungen durchgeführt werden müssen. Innerhalb dieser Applikation wird mit FLOW 800 auch relativ gut berechnet, in welcher Reihenfolge das Blut in welche Gefäße fließt. Durch die Analyse der Durchflusszeiten und eine Differenzbetrachtung können wir bestimmen, ob die Operation an einem Blutgefäßes erfolgreich gewesen ist.
Frank Seitzinger, MBA
Ein drittes wesentliches Element der Innovation des KINEVO 900 ist das Mikroinspektions-Tool QEVO, mit dem man um die Ecke schauen kann. Die Sichtachse des Mikroskops ist immer durch den optischen Pfad eingeschränkt. Wenn man also gegebenenfalls um ein Blutgefäß herumschauen muss oder um die Ecke blicken möchte, um zu sehen ob der gesamte Tumor entfernt wurde, ist das nun sehr leicht und voll integriert möglich. QEVO ist sehr einfach zu nutzen, man kann es am System einstecken und so endoskopisch den Blickwinkel für den Operateur nochmals erheblich erweitern.
In welchen Schritten fanden die Entwicklung und die Umsetzung der Applikation im Klinikalltag statt?
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Das ist ein komplexes Thema, denn wir greifen auf das Wissen von bereits bestehenden Projekten zurück, die wir für die Innovationen nutzen. Was zum Beispiel das Mikroinspektions-Tool QEVO betrifft, gab es zwischen 2008 und 2010 die ersten Ansätze, so etwas zu konzipieren oder zu pilotieren. Die Anfänge einiger Innovationen, die jetzt in der Applikation versammelt sind, reichen relativ lange zurück – fast zehn Jahre.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Man hat eine Idee, das Konzept einer Innovation, und man wartet auf die technische Möglichkeit, sie zu realisieren. Alles wird immer kleiner, und irgendwann ist auch der Chip, den man an die Spitze setzt, dafür nutzbar. Die Konzepte, also die Ideen einer Innovation, nehmen oft die technische Voraussagbarkeit vorweg.
Frank Seitzinger, MBA
Es gibt Innovationen, wie zum Beispiel das INFRARED 800, die schon in Vorgängerprodukten zum Einsatz kamen. Sie wurden aber noch einmal deutlich verbessert, etwa durch höhere Auflösungen, um sehr viel feinere Strukturen zu erkennen. Auch die zeitliche Auflösung ist besser geworden. Andere Teile der Innovation, wie die Robotik, sind in unserer Applikation komplett neu, und die kam auch das erste Mal mit dem KINEVO 900 auf den Markt. Hier ging es vorwiegend darum, die Applikation genau zu verstehen und die robotische Technologie genau darauf abzustimmen.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Die Besonderheit in der Entwicklung war – Andreas Raabe war da bereits sehr stark involviert –, dass man zu Beginn des Projekts internationale Anwendergruppen zusammengerufen hat. In Frankfurt fand eine Session statt, in Asien, in den USA, und man hat gemeinsam mit den Ärzten erforscht, was der nächste Schritt für die Visualisierung in der Mikrochirurgie sein sollte. Dabei kamen viele Ideen zusammen, die wir dann versucht haben, zu konsolidieren: Robotik oder die Interaktionen mit dem System ohne Einsatz der Hände war ein sehr gewichtiger Aspekt, und daraus ist die heutige Robotik im System teilweise mit entstanden.
Das System unterstützt mikrochirurgische Eingriffe. Welche Größenordnungen sind hier relevant, in Deutschland oder auch international?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
In Deutschland werden pro Jahr 10.000 Operationen am Gehirn durchgeführt und über 100.000 an der Wirbelsäule.
Hinter dieser Innovation stehen zahlreiche Einzelinnovationen, die durch Patente abgesichert sind. Sind das Entwicklungen aus Ihrem Haus oder auch durch und mit Partnern?
Frank Seitzinger, MBA
Es gab Patente, die zusammen mit akademischen Instituten entwickelt und dann eingereicht wurden. Eine große Anzahl der Patente ist hier im Haus entstanden. Es gibt einen sehr gut definierten Patentprozess. Jeder Mitarbeiter kann ein Patent vorschlagen, das geht durch Gremien, und dann wird entschieden, ob und wo es eingereicht wird und wo es zur Zuteilung kommt.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Was die Entwicklungen angeht, haben wir deutschlandweit, aber auch weltweit, sehr viele nicht akademische Partner, die von einer einfachen Zeichnung bis zu einem sehr komplizierten Steuerungsalgorithmus Umsetzungen für uns entwickeln. Dazu zwei wichtige Aspekte: Wir erfinden keine neue Technologie und setzen in der Grundlagenwissenschaft an, sondern wir versuchen, Bestehendes zu transferieren und in neue Umsetzungen zu bringen. Unsere Kernkompetenz ist das Verständnis für die Technologie im Hinblick auf die Applikation und Architektur von solchen Systemen. Weil aber viele verschiedene Technologien dafür notwendig sind, holen wir uns immer wieder externe Hilfe dazu – anerkannte Spezialisten, manchmal sehr in die Breite gehend. Unsere Leistung besteht darin, das alles richtig zusammenzutragen und die Puzzlestücke zu finden, die zusammenpassen. Dabei helfen uns viele Partner. Es gibt Komponenten, die es fertig gibt; zum Beispiel werden wir eine Videokamera nicht extra entwickeln lassen, aber sie immer auf ganz spezielle Eigenschaften für die Applikation optimieren. Das können zum Beispiel spezielle Farb- oder Frequenzfilter sein, um ganz besondere Effekte zu erzielen. Das wird auf unsere Spezifikation hin von verschiedenen großen Partnern zusammengebaut. Oder auch eine Lichtquelle: Die machen wir nicht selbst, die wird zugekauft.
Medizintechnik muss geprüft werden. Ist das für Ihre Umsetzung erfolgreich verlaufen?
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Es ist ein großer Aufwand, die Zulassung zu bekommen, weil jede Region das ein wenig anders vorgibt. In der EU gibt es das CE-Zeichen, in USA und in China gibt es eine Zulassung, Japan ist ein wenig anders, ebenso Südkorea oder Brasilien. Das ist wirklich aufwendig, und das System durchläuft eine intensive Testphase, um zu dokumentieren, dass es sicher ist. Diese Testphase kann, abhängig von den lokalen Anforderungen, auch schon mal bis zu einem Jahr dauern.
Herr Professor Raabe, Sie gehören zu denen, die sich sehr früh als Experten mit der Entwicklung des Systems beschäftigt haben.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Ich habe tatsächlich schon eine sehr, sehr lange Verbindung zu ZEISS, die entstand zunächst durch einen Zufall. Als ich in Frankfurt am Main als leitender Oberarzt unter Führung meines früheren Chefs Prof. Seifert mitoperiert und mitgearbeitet habe, stammten alle Mikroskope von ZEISS. Das war aber nicht nur Zufall, sondern einfach eine Sache der Marktführerschaft. Und weil ich auch technisch und physikalisch interessiert bin und manchmal bei verschiedenen OPs Verbesserungsmethoden eingebracht habe, war ich von Anfang an auch bei technischen Entwicklungen dabei. Und dann gab es ein Schlüsselereignis, das reicht zurück bis 2001 oder 2002. Ich hatte eine Idee für eine Methode und begann darüber nachzudenken, sie als Verfahren am oder im Mikroskop zu adaptieren.
Eigentlich war das Glück oder ganz einfach der richtige Zeitpunkt, denn einige Jahre davor hätte mich ZEISS nicht angehört, weil noch kein Computer und keine Technologie integrierbar war. Aber es passierte zu einem Zeitpunkt der Reife der Dinge und bei ZEISS, damals bei Herrn Brunner. Ihm habe ich das erklärt und wir haben das hier besprochen: Wir brauchen das Mikroskop. Es war das erste Mal, dass wir ohne Angiographie den Blutfluss nicht mehr mit normalen Augen sehen konnten. Es war die erste oder die zweite Fluoreszenzkomponente, beide sind gleichzeitig einbezogen worden, eine für Tumore, eine für Gefäße. Die Zeit war reif, die Technik war reif, und es gab die Idee, und so ist die Kooperation entstanden. Von da an gab es einen kontinuierlichen Austausch, mit Rückmeldung, Verfeinerung, Testen auch von neuen Entwicklungen.
Eine zweite Entwicklung, die wir anstoßen wollten, war, Funktionen im Gehirn sichtbar zu machen. Wenn man bei der Operation das Gehirn freigelegt hat, sieht man manchmal den Tumor nicht, und man sieht auch keine Funktionen: Womit denkt man, womit bewegt man, womit spricht man? Das sieht man indirekt über den Blutfluss: Wenn der Patient spricht oder eine bestimmte Aktivität ausgelöst wird, wird ganz fein die Durchblutung in diesem Areal sichtbar. Man sieht dieses Areal aufleuchten, wenn man das richtige Verfahren dafür hat. Dazu haben wir auch schon Applikationen entwickelt, wir waren dabei, das auch als Nächstes mit einzuführen, aber das gelang uns damals technisch nicht.
Es gab dann neue Anläufe, wie mit dem QEVO. Manche Konzepte sind der Entwicklung voraus. Sie warten nur darauf, entdeckt zu werden, und irgendwann werden sie auch umgesetzt. Und so kommt ein Schritt zum anderen. Als Arzt will ich nicht sagen: Wenn ich das jetzt sehen würde, könnte ich die und die Komplikation vermeiden oder eine bessere Wirkung erzielen. Solch Entwicklungen sind ein Gesamtpaket, bei dem Komponenten in die Diagnostik mit eingebunden werden müssen, die wir sonst außerhalb des OPs oder in einer Zweitoperation machen müssen, oder wo Komplikationen entstehen, die vermeidbar gewesen wären, wenn es diese Technik dafür gegeben hätte. Und das ist bis heute der Austausch mit den Technologen, den wir brauchen.
Frank Seitzinger, MBA
Du hattest auch einen der ersten Prototypen in den Händen und hast uns sehr wertvolles Feedback gegeben, gerade in der Endphase, wenn man feinjustiert.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Es nützt mir nichts, wenn ich das einmal sehe. Ich muss das zehnmal sehen in der Wiederholung und muss sicher sein: Jetzt sieht man die Feinheiten. So ergänzen wir uns auf dieser Ebene, man lernt, die Bedürfnisse der User mit dem Expertenwissen zu verbinden, und so bringt man sich gegenseitig vorwärts.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Es ist ja tatsächlich schwierig, als Ingenieur zu verstehen, was dafür ausschlaggebend ist, dass ein System gut ist oder nicht. Also ganz praktisch die Unterscheidung, eine Validierung der Funktion. Theoretisch kann man viel machen, im Labor ausprobieren, aber um die richtig harten Fakten zu bekommen, ob etwas funktioniert oder nicht, muss der Neurochirurg in einer bestmöglichen Simulationsumgebung mit ähnlichen Randbedingungen das ausprobieren.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Ganz wichtig ist, dass sich auf beiden Seiten Personen finden, die in der Lage sind, Grenzen zu überdenken, sie zu überschreiten und zu kommunizieren. Man darf nicht stehen bleiben, sich ärgern, dass etwas nicht funktioniert und dass der andere es nicht versteht. Jeder sollte in der Lage sein, eine Verbindung aufzubauen, einen Prozess zu beginnen, bei dem es dieses Feedback auch gibt.
Wir unterhalten auch Kooperationen mit andere Firmen mit verschiedenen Techniken. Und es ist tatsächlich so, dass man aus der Klinikwelt sozusagen herausgenommen werden muss. Das ist der Wert des Brainstormings, des Freimachens des Kopfes, da kommen auf einmal Ideen auf. Man weiß, neun fliegen weg und eine kommt vielleicht weiter. Und dann muss man dranbleiben, dass es weiterläuft. Und wenn man einen Partner findet, mit dem das funktioniert, dann ist es ein echter Gewinn.
Vor Operationen am Kopf oder an der Wirbelsäule haben die meisten Patienten Angst. Was bedeuten solche Eingriffe für den Operateur? Was braucht er an Wissen, hochspezialisierter Ausbildung, Handwerkskunst und körperlicher Präsenz? Wie lange steht man am Tisch, wie ist der Tagesablauf eines Menschen, der wie Sie solche Operationen durchführt?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Die Dauer einer einzelnen Operation ist unterschiedlich, es gibt häufig Operationen zum Beispiel an der Wirbelsäule, die 30 Minuten oder auch vier, fünf Stunden dauern können. Und es gibt solche, die zehn, zwölf Stunden dauern, zig Stunden im OP, bei denen man sehr konzentriert arbeiten muss. Es ist meist so, dass man sich im Team nicht abwechselt, aber es gibt jemanden, der den Zugang vorbereitet und Ähnliches, weil sich die Tätigkeiten unterscheiden. Wenn man mit dem Mikroskop arbeitet, ist es eine ganz andere Atmosphäre als bei den Arbeiten davor oder danach. Das ist einfach so.
Was muss ein Operateur haben? Es ist oft schwer zu verdeutlichen, dass man in solchen Berufen – das Leben ist ja ein Weg, es gibt kein Ziel – sechs Jahre studiert. Dann ist man fertig – und ist eigentlich noch nichts. Dann kommt die Facharztausbildung. Nach fünf oder sechs Jahren Neurochirurgie hat man zwar den Facharzttitel, aber man kann trotzdem noch nicht so gut operieren, dass man sagen könnte, man traut sich viel zu, und die Patienten kommen in Scharen, weil man das besonders gut macht. Es dauert tatsächlich noch mal zehn Jahre, bis man bei den Routineoperationen so gut ist, dass man das State of the Art macht. Und das heißt noch lange nicht, dass man vier, fünf, zehn, zwölf spezielle Rückenmarkstumore pro Jahr entfernt oder zehn, zwanzig Angiome oder das ganz Spezifische macht, denn dafür ist wieder die Spezialisierung notwendig. Man kann es vielleicht im Alter so ab 40, dann ist man erst so weit, bei bestimmten OPs vielleicht erst noch später. Das Ganze entwickelt sich kontinuierlich.
Solch lange Operationen sind ja auch eine physische Belastung. Was bringt dieses neue System für Sie in dieser Hinsicht?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Es ist eine physische Belastung und auch eine mentale, gefragt sind Konzentration, Feinmotorik, wir operieren an Gefäßen, da geht es um weniger als Millimeter. Es geht auch darum, dass man tremorfrei arbeitet. Es gibt auch Operationen, bei denen man stundenlang steht und hantiert und genauso physisch beansprucht wird. Mein Vergleich ist immer der Flug nach Chicago, bei dem man acht bis zehn Stunden sitzen muss, das ist auch physisch anstrengend. Im OP hätte man eigentlich die Verpflichtung zu sagen: Stopp, jetzt wartet mal kurz. Man könnte eine Operation auch ruhen lassen und Schritt für Schritt zu machen, sich 20 Minuten hinsetzen, Kaffee trinken, dann wieder entspannt reingehen. Aber in Wirklichkeit macht man das nicht, man hat die Operation angefangen, weiß anatomisch ganz genau Bescheid, da kann nicht einfach jemand anderes irgendwie weitermachen, das geht nicht. Das muss man zu Ende machen. Und das ist physisch schon anstrengend.
Diese Innovation bietet eine Entlastung durch die Leichtgängigkeit, durch die Robotik …
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
… das ist richtig, es ist ein Teil des Paketes. Man hat gemerkt, dass es ein Problem ist, wenn man unbequem sitzt, der Chirurg später selbst zum Wirbelsäulenpatienten werden kann. ZEISS hat das immer weiterentwickelt, und es ist nicht nur diese Feinheit und Stabilität: Der Chirurg kann sich hinsetzen, so wie er entspannt sitzt, die Hände entspannt sind, und dann wird das Mikroskop angepasst. Diese Flexibilität muss man haben, dass es sich genauso anpasst, trotzdem muss es fein bedienbar sein.
Aber Effizienz oder die Möglichkeit, eine OP abzukürzen, beruht darauf, dass man heute nicht mehr alles im Kopf macht. Früher hat man sich alles überlegt, wo ist was, Augen zu und man sieht alles vor sich, fängt an zu operieren. Wenn man Glück hat, geht alles so auf. Heute schaut man auf den Patienten, sieht den Tumor, weil das Bild davon vorher gemacht und wie im GPS auf den Kopf überlagert wird, man macht einen kleineren Schnitt, ist schneller. Während der Operation sind im Okular die Ziele eingeblendet und das, was man vermeiden will. Man kann Diagnostik während der OP machen, und mit ZEISS können wir alles einblenden, das entlastet mental ungeheuerlich: Ich weiß, dass alles in Ordnung ist, brauche mir keine Gedanken zu machen und bin viel entspannter, denn ich bekomme alle Informationen. Das ist der Unterschied. Ohne diese baut sich oft eine Spannung im Kopf auf, man weiß nicht mehr ganz genau: Ist das jetzt verschoben oder ist es noch da? Stimmt das alles? Heute, mit diesen Informationen, kann man sich fast zurücklehnen. Man sieht nicht nur durch Licht, sondern eben auch um die Ecke, mit diesen Instrumenten und durch diese Techniken, und das ist ein Teil der Entspannung.
Frank Seitzinger, MBA
Die Überprüfung der Ergebnisse sieht man gleich: mit Infrarot, ob das Blut an der richtigen Stelle fließt, oder mit Intraoperativem Imaging (IOI), einer neuartigen Erkennung von funktionalen Arealen, erhält man die funktionale Kontrolle, also die Verbindungen von den Nerven bis zu den Fingern und den Füßen. Dazu kommen neue Modalitäten, mit denen wir helfen wollen, Gewebefeinstrukturen zu unterscheiden, was in der Tumorchirurgie hilfreich sein kann.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Damit spare ich mir auch viele Schnellschnitte zur Prüfung, ob noch Tumorgewebe vorhanden ist oder nicht. Es gibt gemischtes Gewebe, und die Frage lautet, ob man hier aufhören oder weitermachen soll: Schnellschnitt, warten, Information, drei Millimeter weiter, Schnellschnitt, warten, Information. So weiß man es genau und kürzt auch Zeiten ab.
Gibt es neue Bereiche, die Sie sich durch diese Technologie erschließen konnten?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Eine Fluoreszenztechnik, die dazukommt, erschließt immer irgendwo ein wenig von einem Teilbereich. So wird das, was wir an Verfahren an einem Ort zusammenbringen, wie bei einem Puzzle immer größer. Natürlich kann das Mikroskop kein MRI (Magnetic Resonance Imaging) machen. Aber die Diagnostikelemente, die wir verwenden können, bringen während der Operation Sicherheit und Informationen über den Effekt: Wie weit muss ich gehen, um etwas zu erreichen, und was darf ich nicht tun, um nicht zu schaden? Diese Balance ist enorm wichtig. So ist das KINEVO wichtig und mehr als ein Sammelsurium von bestimmten Techniken.
Ganz neu ist vor allem auch die Visualisierung von Gehirnfunktionen über das IOI. So wird das System immer dichter, es werden immer mehr Puzzlesteine, die die Lücken schließen. So ist das Konzept. Und es ist offen. Die Technik ist eine Plattform, die in der Zukunft weiter ausgebaut werden kann.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Das war uns bei diesem Gerät auch so extrem wichtig: dass wir eine neue Plattform generieren, die uns die nächsten 10, 15 Jahre begleiten wird. Die Robotik war sehr, sehr wichtig, wird aber kontinuierlich weiter ausgebaut, es kommen neue Funktionen hinzu. Es steht eine Plattform zur Verfügung, auf der wir aufbauen können. Wir sehen diese Plattform dann auch als das digitale Gedächtnis der Operation, deren dort gesammelten Informationen Grundlage für eine weitere Behandlung sind.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Zusätzliche Informationen gewinnt man vor allen Dingen durch die Fluoreszenztechnik, die hilft, dass man nach der Operation eine bestimmte Behandlung spezifizieren kann. Durch diese Bildgebung weiß man, dass bei einer Operation Gefäßaussackungen nicht vollständig entfernt sind. Das hat man bewusst gemacht, weil dort ein kleiner Ast rausgeht. Das sieht man aber nicht in der Angiografie. Aber wenn man als Operateur sagt, diesen Rest habe ich gesehen und das Gefäß sollten wir in Ruhe lassen, dann ist das nun auch sicher, dann braucht man keine Behandlung. Ebenso bedeutsam ist, dass wir Fluoreszenztechniken bei Operationen anwenden, denn damit sehen wir Tumorzellen. Ein Tumor wächst auch an Randgebieten von Funktionen, wo wir aufhören müssen, sonst ist der Patient hinterher gelähmt. Man gibt immer der Funktion die Priorität. Und dann lässt man gewissen Teil an Tumorzellen dort stehen. Für die Onkologen ist das MRI Bild, das man nach der OP macht, der Goldstandard. Da sieht man nichts, und sie sagen, der Tumor ist vollständig entfernt. Aber wir haben durch unsere Technik gesehen, dass dort ein Zellrasen steht. Deswegen muss man an der Stelle durch Strahlen nachbehandelt werde. Das sind schon ganz konkrete Auswirkungen.
Das ist der Nutzen für den Patienten, aber was hat jetzt die Allgemeinheit, die Gesellschaft, von diesem neuen Verfahren?
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Wenn wir etwas Neues auf den Markt bringen, wollen wir sowohl die Effizienz des chirurgischen Eingriffs verbessern als auch das Resultat, die Effektivität. Ich glaube, dass man mit den Floreszenzen im Vergleich zu früher schneller ist und damit sicherer. Ich bin kein Chirurg, aber wenn man ein leuchtendes Gewebe differenziert sieht, kann man effizienter herangehen.
Frank Seitzinger, MBA
Effizienz und Effektivität ist ja nicht nur in Hinblick auf den klinischen Einsatz und die Wirtschaftlichkeit zu sehen, sondern ganzheitlich. Der Hebel, den wir ansetzen, ist, dem Neurochirurgen zu den bestmöglichen Entscheidungen zu verhelfen, also so viele Informationen wie möglich – alle Puzzlestücke – zu liefern. Wir können nicht darüber entscheiden, ob etwas entfernt werden muss, aber wir können alles an Informationen zugänglich machen. Wenn die Entscheidung dadurch besser ist oder einfacher gefällt werden kann, hat der Patient auch eine höhere Wahrscheinlichkeit zu genesen und vielleicht kürzere Heilungszeiten. Die Effizienz ist nicht nur ein Thema in der Klinik, sondern es entfällt vielleicht eine Nachbehandlung, der Patient kann schneller wieder in den Beruf eintreten. Bei nicht heilbaren Tumoren kann möglicherweise die Lebensdauer so weit verlängert werden, dass der Patient noch seine persönlichen Belange regeln kann. Diese Effizienz betrifft nicht nur den wirtschaftlichen Part, sondern auch den persönlichen Bereich.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Das ist eine schwierige Diskussion. Jeder würde wohl lieber eine 30-stündige OP überstehen mit dem Gedanken, dass es einem hinterher besser geht, man geheilt ist. Für einen selbst ist es egal, ob die OP doppelt so lang und doppelt so teuer ist.
Aber das ist für die Gesellschaft ein Thema – als theoretische Betrachtung. Tatsächlich ist es so, und das ist nicht abstrakt, dass jeder Chirurg, der einen Patienten operiert, plant, was er tut, ohne Schaden zu verursachen. Wenn ich ein Verfahren habe, das hilft, diesen Behandlungseffekt mit höherer Wahrscheinlichkeit zu erreichen, ist es effizient. Und wenn es Methoden gibt, die mir genau sagen, dass etwas, das ich tue, sicher ist, also weniger Komplikationen auftreten, und die helfen, sogar schneller zu sein, denn ich bekomme genau gezeigt, wo ich hingehen, etwas machen, vermeiden muss, und am Ende ist die OP-Zeit kürzer, es gibt weniger Komplikationen und einen größeren Therapieeffekt – all das zusammengenommen ist die Effizienz und Effektivität.
Wie sieht denn der Markt für das System aus? Welche wirtschaftlichen Kennzahlen und Arbeitsplätze sind damit verbunden?
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Wir gehen davon aus, dass es weltweit rund 10.000 Neurochirurgen gibt. Und dann sind da noch die Institute, bei denen wir wahrscheinlich auf 4.000 bis 5.000 kommen. In der Wirbelsäulenchirurgie sind beide Zahlen signifikant höher.
Was kostet das System?
Frank Seitzinger, MBA
Es kommt auf das einzelne Land an und natürlich auf die Konfiguration. Es ist eine breite Spanne, die vor allem durch Optionen getrieben ist. Hier im europäischen Raum fängt es wahrscheinlich bei 250.000 Euro an und kann bis zu 700.000 oder 800.000 Euro gehen.
KINEVO ist auf der ganzen Welt vertreten, im europäischen, asiatischen oder amerikanischen Raum, in allen Regionen der Welt werden die Systeme verkauft. Das schafft in Deutschland viele Arbeitsplätze. Global gesehen hat ZEISS etwa 30.000 Mitarbeiter, in der Medizintechnik über 5.000, in der Mikrochirurgie sind es um die 1.000 Mitarbeiter, mit circa 350 Leuten hier am Standort in Oberkochen. Da wir in den vergangenen Jahren erfolgreich waren und im Markt gewachsen sind, konnten wir dementsprechend neue Stellen aufbauen, etwa für Elektronik- oder Videofachleute, eben auch für neue Berufsgruppen. Früher war es Bleche-Biegen und Optiken-Machen, worin wir sehr gut waren. Jetzt kommen andere Geschäftsfelder hinzu, die aus den weiterreichenden Funktionen der Plattform resultieren.
Und wie sieht es mit Wettbewerb aus?
Frank Seitzinger, MBA
Klassischen Wettbewerb bei den Operationsmikroskopen, vorwiegend hier aus Deutschland, gibt es. Wir als Marktführer haben das Dilemma, gefordert zu sein, einen nächsten Entwicklungsschritt früher zu gehen, bevor der Markt mit den gängigen Produkten gesättigt ist. Wir versuchen uns zu differenzieren, eine integrierte Lösung zu liefern, Technologien zu schrumpfen und zu integrieren. Außerhalb der klassischen Konkurrenz lautet im Umfeld die Zielrichtung, die digitale Schiene auszubauen, über Monitore zu arbeiten, also rein digital zu arbeiten. Das tun wir auch, haben uns aber ganz bewusst für ein Hybridsystem entschieden, aufgrund auch der Rückmeldungen aus dem klinischen Bereich. Es gibt bestimmte Anwendungen, bei denen man digital arbeiten kann, aber auch andere, bei denen es besser ist, klassisch optisch zu arbeiten. Mit unserem System bieten wir beides an, und wir sind die Einzigen, die derzeit auf dem Markt beide Bereiche bedienen.
Die Medizintechnik gilt als wesentlicher Treiber der Digitalisierung. Wo sehen Sie den nächsten Schritt bei Ihrer Entwicklung, welche digitale Features folgen noch?
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Spezifisch für dieses Produkt ist der nächste Schritt in die digitale Welt, die Daten zu dokumentieren, mit ihnen mehr zu tun, sie zu mischen und über das digitale Bild zusätzlichen Mehrwert zu generieren, den man optisch nicht abgreifen kann. Es gibt Technologien, mit deren Hilfe wir Gewebe im lebenden Organismus identifizieren und als digitalen Transfer in die Pathologie schicken können und so eine schnellere Rückmeldung dazu zu erhalten. Wir wollen diese Technologien zusammenbringen und arbeiten an einem Konzept – wir nennen es Tumor-Workflow –, mit dem wir entlang der Behandlungskette einen Mehrwert erwirtschaften und eine ganze Bandbreite von Lösungen anbieten.
Jetzt wollen wir noch etwas von Ihnen persönlich erfahren: Ein Mediziner mit einem Faible für Technologien. Wer hat Sie dazu gebracht, in die Medizin zu gehe? Hat Sie jemand beeinflusst?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Ich bin in Annaberg in Ostdeutschland groß geworden und wollte eigentlich Sport studieren. Irgendwann, und das ist eher Zufall gewesen, habe ich mich für Zahnmedizin interessiert. Und wie es in Ostdeutschland üblich war, mussten wir alle zur Armee, und die, die nur die Grundwehrzeit absolviert haben, mussten ein Jahr zusätzlich im Krankenhaus arbeiten. Dort war ich in der Chirurgie, und da man neugierig in diesem Alter ist, war es so, dass man plötzlich etwas sieht und machen will. So bin ich zur Medizin gekommen, habe zwei Jahre in Jena und vier in Dresden studiert.
In der Zeit Ihrer beruflichen Ausbildung gab es spannende Veränderungen, den Wechsel der Systeme. Hat das Auswirkungen auf Sie gehabt?
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Das verändert alles, stellt neue Weichen und schafft neue Möglichkeiten. Das war eine völlig andere Welt, die sich geöffnet hat, und die Vorstellungen, wenn man jetzt von der Schule ins Studium und dann in die Facharztausbildung geht, wurden nochmals potenziert dadurch, dass sich plötzlich eine ganze Hemisphäre öffnet. Das ist so inspirierend, dass es sich auf das ganze Leben auswirkt.
In dieser Zeit hat man versucht, das mitzunehmen, was irgendwie im Leben an Schwung aufkommt, und so ist es dann auch gleich weitergegangen. Das zuvor ist ein gesellschaftliches System gewesen, das überholt war, es war ein völlig anderes Leben, das dort stattgefunden hat.
Sie sind durch Ihre Tätigkeit oft im Ausland und international vernetzt. Was meinen Sie: Wie gut ist unser Gesundheitssystem? Die Corona-Pandemie derzeit hat dazu sehr unterschiedliche Ansichten laut werden lassen.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Es wird für mich immer mehr zum Kriterium, wie viel Geld, wie viel Aufwand, wie viel Aufmerksamkeit man kranken Menschen, Menschen in Notsituationen, widmet. Daran zeigt sich die wirklich soziale Seite des Gesellschaftssystems eines Landes. Deutschland hat ein gutes Gesundheitswesen. Es entstehen immer wieder Diskussionen über Effizienz und Kostensparen, das ist auch berechtigt, und es müssen sich auch Dinge ändern. In der Medizin gibt es sehr viel Besitzstand, Diskussionen darüber, was die Verfahren, was Gemeinsamkeiten, was Neuentwicklungen im medizinischen Bereich angeht. Es hat auch damit etwas zu tun, dass die Medizin, im Gegensatz zur Computertechnologie, auf sehr viel Altwissen vertrauen kann. Was man lernt, gilt für Zeit des Lebens. Bei einer neuen Computersprache brauche ich die alten nicht mehr, zack, es geht immer weiter.
Was nicht gut läuft, ist die Tatsache, dass sich in verschiedenen Bereichen die Kostendiskussion zu sehr zuspitzt. Das sollte sich ändern. Man muss in der Lage sein, Forschung noch so umzusetzen, dass man wirklich forscht. Man sollte das Geld in die Forschung, in Leuchttürme stecke, das kann auch sehr kompetitiv sein. Natürlich muss man auch Effizienz schaffen. Die Vergütung im Gesundheitssystem ist so angelegt, dass man auch irgendwann Häuser schließt, weil sie ineffizient sind, aber zuweilen führen politische Betrachtungen dazu, dass sie offen bleiben. Alles ist eine Gemengelage. Aber wir sind gut in der Medizin, und wir müssen in manchen Bereichen aufhören zu sparen, sonst entwickeln wir uns nicht weiter.
Herr Masini, Sie sind in Rom geboren und dann nach Deutschland gekommen.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Ja, das war 1987. Ich bin für die erste Klasse sozusagen nach Deutschland gekommen. Das Einzige, was ich sagen konnte, war: Guten Tag.
Jetzt bedienen wir ganz bewusst ein Klischee: Waldorf-Schule und dann Studium der Elektrotechnik und Informationstechnik, wie passt das denn zusammen? Was war die Motivation, dieses Studium zu absolvieren und dann auch noch sehr erfolgreich abzuschließen?
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Dazu muss ich ganz kurz ausholen. Mein Vater war sehr viele Jahre Kameramann, und irgendwann hatte er genug davon und ist Lehrer geworden. Dabei hat er die Waldorf-Pädagogik kennengelernt, verschiedene Bildungssysteme gesehen und fand, dass Italien nicht das Richtige für uns Kinder war und ist mit mir, meiner Mutter und meinem Bruder damals nach Deutschland gekommen. Und ich bin froh, dass er diesen Schritt gemacht hat und mir die Ausbildung in Deutschland ermöglichte. Die Waldorf-Schule ist aus der Ferne betrachtet eine ganz normale Gemeinschaftsschule mit ein paar speziellen Spezifika. Ich habe dazu meine eigene Meinung. Meine eigenen Kinder sind nicht auf der Waldorf-Schule, weil ich gesehen habe, dass die Staatsschulen in Deutschland sehr viele positive Aspekte übernommen haben, aber einige negative Aspekte der Waldorf-Schulen nicht aufweisen.
Wir kam ich zu dem Studium? Ich komme aus einer künstlerischen Familie, meine Geschwister sind entweder Lebenskünstler oder tatsächlich Künstler, mein Vater war Künstler, und ich bin der Einzige, der technisch orientiert ist. Ich habe mich relativ früh für Technik interessiert, Software programmiert, Elektronik gebaut noch ohne Ausbildung, habe vielleicht den einen oder anderen Mist gebaut. Mit 16 habe ich meine erste Software verkauft, war begeistert von Elektrotechnik und Software. Ich wollte zwar Mathematik studieren, habe aber gesehen, dass im Studium der Elektrotechnik sehr viel Mathematik drinsteckt, sodass ich mich schließlich für Elektrotechnik entschieden habe.
Herr Seitzinger, Sie haben Deutschland sehr früh den Rücken gekehrt und sind ins Ausland gegangen.
Frank Seitzinger, MBA
Ich war schon als Jugendlicher sehr US-affin, hatte viel Kontakt mit Amerikanern, mich hat das Land immer fasziniert. Eigentlich wollte ich während des Gymnasiums schon in die USA gehen, da haben meine Eltern aber Nein gesagt, dann kam der Zivildienst, und dann bin ich mit meiner damaligen Freundin, die jetzt meine Frau ist, in die USA. Ich wusste nicht wirklich, worauf ich mich einlasse, und habe relativ schnell gemerkt, dass ich mit einem Abitur aus Deutschland die ersten beiden Jahre des Studiums in USA sehr gut abdecke. Ich habe einen Bachelor gemacht, wollte auch Medizin studieren, gleichzeitig aber in der Bewerbungsphase Geld verdienen, bin ins Krankenhaus als Techniker im Bereich Lungenfunktion gegangen und dann für fünf Jahre hängen geblieben. Ich hatte mit Ärzten zu tun und fand heraus, dass das Umfeld der Medizin sehr spannend ist, aber der Beruf des Arztes nicht zu dem passt, was ich mir für mein Leben vorstelle. Und weil ich mit dem Bachelor noch nicht zufrieden war und einen weiteren Schritt gehen wollte, habe ich mich für den MBA entschieden, der mir dann in der Tat geholfen hat, auch in die Industrie hineinzukommen. Ich bin dann als Produktmanager in eine Sparte im klinischen Umfeld gegangen, und das hat sich dann dementsprechend weiterentwickelt.
Sie beide sind ungefähr zum gleichen Zeitpunkt zu ZEISS gekommen. Was hat Sie denn bewogen, in dieses Unternehmen zu gehen?
Frank Seitzinger, MBA
Ich war in einer sehr komfortablen Situation, hatte eine globale Marketingfunktion bei der amerikanischen Firma, einen guten Job inklusive Prokura und Standortleitung. Dann hat ZEISS angerufen, ein Unternehmen, das ich bisher nur mit Brillengläsern assoziiert hatte. Als ich dann hierher eingeladen wurde, fand mein erstes Vorstellungsgespräch mit sechs Leuten statt -- die ganze Bandbreite von Qualitätsabteilung über den Standortleiter bis hin zur Entwicklung. Der Vorgänger von Michelangelo Masini hat mich durchs Haus geführt, und ich war echt überrascht, dass so etwas noch stattfindet – Forschung! Ob zusammen mit einer Universität oder hier im Haus, das war etwas, was ich aus dem amerikanischen Unternehmen nicht kannte.
Da war irgendwas, ich kann es nicht genau beschreiben ... Einmal konnte ich den Schwenk aus der Lungenfunktionsdiagnose in die Neurochirurgiesparte machen, war damit breiter aufgestellt, und dann war ZEISS ein Unternehmen, das vorwärtsblickt, Innovation in den Markt bringt und durch die Stiftung auch ein sehr interessantes Statut hat. Das war ausschlaggebend für diesen Schritt, und ich habe ihn in keiner Minute davon bereut.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Mich hat das Thema Medizintechnik früh begeistert, trotzdem war ich nach Studium und Promotion in dieser Richtung nicht aktiv. Ich bin zunächst zu Kärcher Reinigungsmaschinen, mit sehr viel Elektronik und Software, hatte während dem Studium den ersten Kontakt mit dem damaligen Siemens-Vorstand Prof. Reinhardt, der uns die CT-Technologie gezeigt hat. Seitdem hat das Thema Medizintechnik an mir genagt. Und dann kam ein Anruf. Ich hatte eigentlich keine Wechselambitionen, aber anhören wollte ich mir das schon und war dann auch schnell begeistert. Mir war nicht bewusst, dass ZEISS schon damals eine so große Medizintechniksparte hatte, und ich habe relativ schnell gewechselt. Was mich jeden Tag hier begeistert, ist diese enorme Breite in der Technologie, also von Beschichtungen im Glas, in der Optik, Mechanik, Regelungstechnik, Software, das gesamte Ökosystem, die ganze Applikation zu verstehen. Diese Vielfalt an Themen – und gleichzeitig ist man von der Geburt der Idee bis zur Serienstabilität und Serienpflege eines Produktes in alles eingebunden, und das macht es ungemein spannend. Jeden Tag etwas Neues, jeden Tag wieder die Freude, hier etwas zu tun.
Wann sind Sie denn nach Bern gegangen? Was war dafür entscheidend? Denn Frankfurt ist ja für die Neurochirurgie ein sehr etabliertes Umfeld.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Es ist keine persönliche Entscheidung, wenn an einer Universität ein großer Lehrstuhl frei wird und wenn eine große Klinik im deutschsprachigen Raum – Österreich und die Schweiz gehören dazu – einen neuen Direktor sucht. Irgendwann ab einer bestimmten wissenschaftlichen und klinischen Qualifikation bewirbt man sich, und es ist eine Auszeichnung, wenn man unter die ersten sechs kommt und eingeladen wird. So wollte es damals tatsächlich der Zufall, dass in Bern die Stelle ausgeschrieben war, dass auch in Essen eine Stelle ausgeschrieben war und dass ich den Ruf auf beide Kliniken bekommen habe. Und dann führt man Verhandlungen, auf beiden Seiten, und irgendwann gibt es ein Ungleichgewicht, wo man sich sagt, dass man – trotz vielleicht kultureller Unterschiede, weil es ein anderes Land ist – dort wahrscheinlich mehr Möglichkeiten hat, dieses oder jenes zu realisieren. Man kann bestimmte Projekte und Ideen angehen und sogar umzusetzen. Die Realität ist oft so, dass man als Klinikleiter sehr viel Bürokratie erledigen muss und dort gebunden wird, aber prinzipiell stimmt es, dass auch ich mich nach den Möglichkeiten, die man mir in der Wissenschaft, in der Klinik geboten hat, dann auch entschieden habe.
Was machen Sie denn außerhalb der Arbeitswelt, wenn sich das zeitlich überhaupt machen lässt, womit entspannen Sie sich?
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Ich habe meine Familie mit drei Kindern und mache sehr gerne etwas mit ihnen. Hier gibt es viele Möglichkeiten, einfach Wanderungen oder Picknick. Wenn dann etwas Zeit für mich bleibt, versuche ich, Sport zu machen, nicht nur, um fit zu bleiben, sondern weil mir das auch einfach Spaß macht, in den Bergen hoch und runter, Höhenmeter, egal ob Mountainbike oder laufen oder wandern.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Zeit muss man sich auch nehmen. Die Führung oder Konzeption einer idealen Klinik, die man ja anstrebt, sieht auch vor, dass man ersetzbar wird. Ich kenne es noch ein wenig anders, die großen schweren OPs machen die Chefärzte und die Stellvertreter. Das gibt man nicht ab. Aber man muss ersetzbar sein, man muss ein gutes Team haben und die Leute fördern – man muss den Kopf frei bekommen. Man muss auch Zeit haben, mit den Gedanken woanders zu sein. Wir sind gerne zu Hause, machen auch mal einfach gar nichts, was aber selten ist. Ich habe drei Kinder, einer arbeitet schon, zwei studieren, und die sind noch bei uns zu Hause. Wir kochen gern, treffen Freunde, wenn wir Zeit haben, diskutieren die ganze Welt durch. Aber ich mache auch sehr viel Sport, fahre viel Fahrrad und Mountainbike, Rennrad, und wir gehen auch raus in die Natur, wann immer es geht.
Dr.-Ing. Michelangelo Masini
Das habe ich tatsächlich vergessen: Ein Laster, das muss ich dazu sagen, ist Kochen, alles hoch und runter.
Prof. Dr. med. Andreas Raabe
Das ist gut, da müssen wir uns mal treffen.
Frank Seitzinger, MBA
Ich kann mich fast anschließen, ich habe zwei Kinder und versuche seit knapp über einem Jahr, regelmäßig Sport zu machen. Ich gehe viel laufen, das hilft mir wirklich, im Kopf und auch im Körper.
Ansonsten wir sind zu Hause multikulti, deswegen versuchen wir viel zu reisen, den Kindern die Welt zu zeigen – auch schon in jungen Jahren, mein Sohn war zwei Monate alt, als er das erste Mal Transatlantik geflogen ist, und das haben wir so fortgeführt. Ich finde das sehr wichtig, gerade die Erfahrung in den USA. Vor 20 Jahren war es sehr mind opening, hat meinen Horizont erweitert, und das wollen wir den Kindern mitgeben. Wobei sich in den vergangenen 15 Jahren Deutschland und Europa sehr geändert haben. Als wir vor zehn Jahren nach Deutschland zurückkamen, war vieles anders. Deutschland ist viel offener geworden. Deswegen lebe ich mittlerweile auch sehr, sehr gerne wieder hier, möchte aber meinen Kindern die Welt zeigen, und damit verbringen wir sehr viel Zeit.
Vielen Dank für das Gespräch.