Dr. rer. nat. Carla Recker
Ein Reifen sorgt für den Kontakt zwischen Fahrzeug und Straße, dafür, dass man auf der Straße bleibt, so etwa, wenn man in eine Kurve fährt, bremst oder beschleunigt. Er überträgt die Kräfte, die einen vorwärtsbringen, und ist auch für die Sicherheit beim Fahren sehr wichtig. Ein Reifen besteht nicht nur aus Gummi oder Gummimischungen. Er beinhaltet Festigkeitsträger im Querschnitt, Stahl- und Textilkorde, je nach Reifengröße verschieden ausgeprägt, damit die Fahreigenschaften des Reifens auch so sind, wie sie für die Sicherheit ausgelegt sein müssen.
Reifen beinhalten etwa 15 bis 20 verschiedene Kautschukmischungen, die unterschiedlich je nach Teil und Funktion im Reifen sind. Jede Mischung ist also optimal für ihren Einsatzzweck und ihre Aufgabe ausgelegt. Dazu kommen zum einen verschiedene Kautschuke zum Einsatz, zum anderen Stoffe wie beispielsweise Füllstoffe, Weichmacher und das Vernetzungssystem.
Bei den Kautschuken unterscheidet man den Naturkautschuk, den man traditionell aus dem Hevea-Baum gewinnt; bereits vor über 150 Jahren begann seine Nutzung für Produkte. Seit etwa den 30er/40er Jahren des letzten Jahrhunderts gibt es auch zunehmend Synthesekautschuke, die ursprünglich als Ersatz für den Naturkautschuk entwickelt worden sind. Man musste aber feststellen, dass man den Naturkautschuk im Reifen nicht zu 100 Prozent ersetzen kann, weil die Eigenschaften zu verschieden sind. Zu den Qualitäten, die man bisher nicht synthetisch hinbekommt, gehören die hohe Schlagfestigkeit und Haltbarkeit von Naturkautschuk, ausgelöst durch die Dehnungskristallisation, die der Kautschuk zeigt. Das ist ein einzigartiges Merkmal von Naturkautschuk, weshalb man ihn in modernen Reifen nicht vollständig ersetzen kann.
Ihre Innovation, die Nutzung von Russischem Löwenzahn zur Gewinnung von Naturkautschuk, besteht nun aus verschiedenen Schritten und Entwicklungsstufen. Ein Ausgangspunkt Ihrer Überlegungen war auch, dass Naturkautschuk aus dem Baum Hevea brasiliensis Probleme bereitet?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Der Naturkautschuk aus dem Baum kann nur in tropischen Regionen dieser Erde angebaut werden, was dazu führt, dass die potentiell zur Verfügung stehende Anbaufläche natürlich begrenzt ist, weil der Baum woanders nicht wächst. Das bedeutet, dass, wenn der Kautschukmarkt wächst und so zusätzliche Anbauflächen für den Kautschukbaum gebraucht werden, dies auf Kosten des tropischen Regenwaldes geht. Eine Lösung ist, nach Alternativen zu suchen, wenn der Naturkautschuk irgendwann knapp werden würde. Um dem vorzubeugen, haben wir unser Forschungsprojekt etabliert.
Ist es richtig, dass etwa 70 Prozent des Naturkautschuks in die Reifenindustrie gehen?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ja, ca. 70 Prozent aller klassischen Kautschukrohmaterialien enden im Reifen, das ist der größte Marktbereich für diese Rohstoffe.
Unter der Prämisse, dass das demnächst schwierig werden könnte, kommt Ihr Projekt zur rechten Zeit?
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
In Ergänzung: Was in der pflanzlichen Rohstoffproduktion passiert, nimmt schon dramatische Züge an. Ich war vor Corona noch in Südamerika. Wenn man über den tropischen Regenwald Brasiliens fliegt, brennt es nahezu überall. Und dies, weil unser aller Hunger nach billigen pflanzlichen Rohstoffen groß ist, sei es Soja, Palmöl oder eben auch Naturkautschuk. Im Interesse aller benötigen wir dringend Alternativen, die man auch hier anbauen kann. Diese zu entwickeln, benötigt jedoch Zeit und Unterstützung. Oftmals werden wir gefragt: „Wann seid ihr denn endlich fertig, wann gibt es Millionen von Löwenzahnreifen?“ Das ist einfacher gesagt als getan, denn die Etablierung einer neuen Nutzpflanze bedarf meist langer Zeiträume. Umso mehr sind wir ein wenig stolz darauf, was wir bereits alles geschafft haben.
Wie und wann entstand die Idee, dass Löwenzahn Naturkautschuk liefern könnte?
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Das hat ursprünglich angefangen 1999, da haben wir schon am Löwenzahn geforscht. Wir haben damals den Milchsaft analysiert und unsere ersten Ergebnisse auf einem Kongress vorgestellt. Da war dann auch ein Vertreter von Continental im Auditorium, der kam auf uns zu und fragte uns: „Das ist ja spannend, dass ihr mit Löwenzahn arbeitet. Wisst Ihr auch um den Löwenzahn, der Kautschuk macht?“ Den haben wir uns in der Folge genauer angeschaut und so ist dann die Kooperation über die Jahre gewachsen.
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
In den ersten Arbeiten haben wir uns um den Latex gekümmert, haben die Methoden zur Analytik auf den Löwenzahn angepasst, da man nicht alle Methoden einfach übertragen konnte. Letztendlich gab es dann 2010 eine erste Bewilligung für eine Modellstudie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft. Ich habe in Münster vor unserem damaligen Extraktionsgerät gestanden und war extrem gespannt, was nach den ersten Mahlungen der Wurzeln rauskam. Als ich das Gerät geöffnet und reingeschaut habe, war erstmal nichts zu sehen. Eine große Enttäuschung! Und dann habe ich in dieser Maschine rumgewühlt und siehe da, auf einmal kamen dann solche „Nuggets“, wie wir sie dann genannt haben, zutage. Die hat Frau Recker erhalten und Materialprüfungen unterzogen.
Das war dann, glaube ich, bei Continental so der Aha-Moment, um festzustellen: In dieser Pilotstudie haben wir etwas gesehen, das geht in die richtige Richtung, jetzt müssen wir versuchen weiterzumachen.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Als wir begannen, erste Projektförderungen zu akquirieren, sind wir ziemlich belächelt worden. Ich kann mich gut an den Moment erinnern, als wir bei der Projektförderung saßen und erzählt haben, „… ja wir wollen aus Löwenzahn Autoreifen bauen“. Die haben uns angeschaut, als kämen wir von einem anderen Planeten. Es war sehr viel Überzeugungsarbeit notwendig und es war dieser besondere Moment, als wir eine Studie gefördert bekamen und innerhalb eines Jahres sehr, sehr gute Ergebnisse hatten. Wir haben gesehen, dass es geht. Dann ist etwas losgebrochen. Wir wurden förmlich von Rückmeldungen überrollt, alle sagten, das ist ja wirklich etwas Neues, eine neue Pflanze, ein anderer Ansatz. Und wir reden über Löwenzahn, der hat eine Publikumswirkung, die ist sehr kurios. Löwenzahn will keiner im Garten haben. Aber auf der anderen Seite ist er auch ein Symbol für Ökologie. Also die Leute finden das großartig!
Historisch gab es bereits Versuche aus Löwenzahn Naturkautschuk zu gewinnen, das ist aber in Vergessenheit geraten?
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Die Verwendung des Russischen Löwenzahns als alternativer Naturkautschuklieferant in Zeiten des Nationalsozialismus wird von uns stets kommuniziert, denn dieser Fakt ist klar dokumentiert, was gut und richtig ist. Als wir mit den ersten Mitteilungen über unsere Arbeiten an die Öffentlichkeit gegangen sind, wollte die FAZ ein Interview haben – ja, warum nicht? Am Tag der Veröffentlichung bin ich morgens zum Kiosk gegangen und habe mir die FAZ gekauft, mache sie auf, und sehe auf einer Doppelseite eine Löwenzahnwiese mit einem Hakenkreuz darin! Der Text war in Ordnung, schilderte die Wiederentdeckung einer alternativen Naturkautschukquelle und was damit gemacht wurde. Zudem gab es eine exzellente Aufarbeitung der Historie dieser Pflanze von Susanne Heim von der Max-Planck-Gesellschaft. Das war spannend zu lesen, aber dieses Bild hat völlig irregeführt.
Damals sind rund um den Löwenzahn und andere Nutzpflanzen wie Weizen unheilvolle Dinge passiert, was auch in vielen Berichten aus der Zeit dokumentiert ist. Aus diesen Unterlagen war der Druck, der durch das NS-Regime ausgeübt wurde, deutlich ersichtlich. Denn die Aussagen der Wissenschaftler über den Stand ihrer Ergebnisse waren sicherlich nicht das, was der damaligen Realität entsprach. Wir konnten auch entnehmen, wo seinerzeit Löwenzahn angebaut worden ist und wie weit sie gekommen sind. Aber wirklich zurückgreifen auf Material aus diesen Jahren war nicht möglich, es war schlichtweg nicht mehr verfügbar. So haben wir Briefe an botanische Gärten geschrieben, die uns Pflanzen geschickt haben. Das war aber alles nicht das Richtige, es wurde eine falsche Pflanze abgelegt. Wir mussten alle Ansätze somit vollkommen neu entwickeln, aber die wenigen verlässlichen Daten über Anbau und Mengen haben uns ahnen lassen, wohin die Reise gehen sollte.
Zurück zum Heute – fangen wir mit der Biologie an, also von der Unkrautpflanze zum „richtigen“ Russischen Löwenzahn. Was haben Sie gemacht? Und wie kommt man zu verwertbaren Mengen des neuen Rohstoffes?
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Das sind im Prinzip zwei Dinge: Wenn man Pflanzen mit viel Naturkautschuk als Ergebnis haben will, müssen zunächst viele Grundlagen gelegt werden. Das bedurfte einer validen Messmethode, die entwickelt werden musste. Es galt Pflanzen zu sortieren, die raussuchen, die auf das gewünschte Ergebnis hin produktiv waren. Das ist, was man unter klassischer Selektionszüchtung versteht. Parallel haben wir wissenschaftlich daran gearbeitet zu erfahren, wie diese Pflanze überhaupt Naturkautschuk produziert, welche Proteine beteiligt sind, welche Gene die Kautschukbiosynthese im Löwenzahn ausmachen. Diese Ergebnisse haben wir publiziert und sie haben weltweit Beachtung gefunden. Dann haben wir versucht, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Biosynthese heraus dem Pflanzenzüchter zu sagen, ob diese oder jene Ausprägung eines Proteins, eines Gens in dieser Pflanze wichtig ist, um so die besten Pflanzen frühzeitig zu identifizieren. Mit denen macht man dann weiter. In der modernen Züchtung nennt man das „Marker-Assisted Breeding“. Eine Vorgehensweise, die in allen Kulturarten breit angewendet wird, auch bei Weizen, Zuckerrüben und Mais.
Dieser Prozess ist demnach nicht abgeschlossen, die Optimierung durch Züchtung ist ein ständiger Prozess?
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Genau. Man hat ein erstes Ziel und das ist der Naturkautschuk. Es gibt auch noch andere interessante Inhaltsstoffe, am liebsten hätte man eine eierlegende Wollmilchsau, die alles kann, also Naturkautschuk und noch andere Inhaltsstoffe produzieren und gleichzeitig viel Biomasse liefern. Aber man muss sich fokussieren und wir haben uns zunächst auf den Naturkautschuk konzentriert. Denn für jedes Merkmal, was man beachten möchte, braucht man ein neues Set an Markern. Manchmal versucht man zu kombinieren, das ist dann wie Sudoku, man muss feststellen, was zusammenpasst und was sich gegenseitig ausschließt.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Eine Ergänzung, denn das wird oft nicht richtig verstanden: Züchtung ist ein Prozess, der nie abgeschlossen ist. Selbst wenn man die beste Hochleistungslinie auf dem Feld hat, wird weiter gezüchtet. Wir reden dann nicht über 10 Prozent Steigerung, sondern es geht um ein Prozent, vielleicht auch nur ein halbes Prozent mehr. Deswegen müssen diese Arbeiten immer weiter fortgeführt werden, auch weil Änderungen der Klimabedingungen gegeben sind.
Wie lange dauert es, wenn man sich auf einen Merkmalkomplex fokussiert, bis das dann in der Pflanze durchgesetzt ist?
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Wenn man das für einzelne Pflanzen betrachtet, ist das ein Prozess von zwei, drei Jahren. Um das Ganze in großen Populationen zu stabilisieren, braucht es in der Regel acht bis zehn Jahre. Nachgelagert muss noch so viel Saatgut erzeugt werden, dass man großflächig anbauen kann.
Die nächsten Schritte im Innovationsprozess Ihres Projektes waren Landwirtschaft und Anbau. Sie haben sich Mecklenburg-Vorpommern als Anbaugebiet dafür ausgesucht. Warum?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Wir haben im Vorfeld dieser Entscheidung mehrere Standorte geprüft. In Mecklenburg-Vorpommern sind viele Faktoren zusammengetroffen. Da war die Tatsache, dass man langfristig gesehen Flächen von bestimmten Größen braucht, und die gibt es nicht überall. Wenn ich im kleinstrukturierten Bayern versuchen würde, irgendwo 10.000 Hektar zu akquirieren, funktioniert das nicht, in Mecklenburg-Vorpommern gibt es riesige Felder. Hier gibt es zudem eine landwirtschaftliche Struktur mit der Möglichkeit, etwas neu zu etablieren. Weiterhin waren die politischen Voraussetzungen in Mecklenburg-Vorpommern – man hat sich sehr um uns bemüht – sehr gut und so ist die Entscheidung für Mecklenburg-Vorpommern gefallen.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Ein Faktor waren die Bodenstrukturen, die man hier vorfindet. In Regionen, die schwere Böden haben, würde man den Löwenzahn nicht anbauen.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ja, hier gibt es relativ schwache Böden, die Landwirte können etliches gar nicht anbauen. Für sie ist es, glaube ich, eine sehr gute Lösung, wenn sie ein zusätzliches Glied in ihrer Fruchtfolge haben, was sie auch in Zukunft gewinnbringend anbauen können – auch das hat gepasst.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Und was man heute selten erlebt, war die Geschwindigkeit, mit der das hier aufgenommen wurde. Schon nach ersten Vorstellungen des Kautschukprojekts ist im Nachgang viel passiert, weil die Politik vor Ort das wollte. Alle Gremien haben Hand in Hand gearbeitet und gezeigt, dass so etwas auch umsetzbar ist. Das ist man heute in Deutschland eher nicht mehr gewohnt. Hier hat alles wunderbar funktioniert ...
Dr. rer. nat. Carla Recker
Das gilt sowohl für den lokalen Support der Stadt Anklam als auch für das Land Mecklenburg-Vorpommern. Es wurde viel möglich gemacht, so dass wir heute hier im „Taraxagum Gum Lab Anklam“ arbeiten können. Die Entscheidungen sind ja noch nicht lange her.
Trotz aller Unterstützung gab es auch hier zunächst einige Probleme zu lösen. Was mussten Sie initiieren?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Es ist nicht so einfach, den Löwenzahn aus dem Gewächshaus aufs Feld zu bringen. Ich bin kein Landwirt und habe das auch lernen müssen. Ich kann mich noch lebhaft erinnern, als wir als landwirtschaftliche Laien versucht haben, den Landwirten vor Ort den Anbau schmackhaft zu machen. Das war eine sehr skurrile Veranstaltung. Wir mussten die Landwirte überzeugen, ohne ihnen wirklich sagen zu können: „Wenn du das anbaust, dann musst du am dritten Tag nach der Aussaat das machen oder, je nachdem wie groß der Löwenzahn ist, dann funktioniert dieses oder jenes.“. Das sind Landwirte eigentlich gewohnt, aber wir wussten das noch nicht. Letztlich hat es funktioniert, wir haben sie begeistern können, sich auf dieses Wagnis einzulassen und das für uns und mit uns zu probieren. Das Netzwerk in Anklam hat uns dabei sehr unterstützt, überhaupt die ersten initialen Landwirte für das Projekt zu finden.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Man liest ja manchmal, dass in einer Urwaldexpedition eine höchst interessante Pflanze mit wertvollen Inhaltsstoffen gefunden wurde. Dann heißt es, die braucht für ihr gedeihliches Wachstum kaum Wasser und nur wenige Nährstoffe, zudem sind die Erträge auch auf schlechten Böden hoch!
Das mag eventuell so sein, wenn man eine Pflanze in ihrem eigentlichen Ökosystem betrachtet. Da wächst sie als Wildpflanze in der Regel gut. Gleiches gilt für den Russischen Löwenzahn, der in seinen Ursprungsgebieten sehr gut gedeiht, weil er sich seit tausenden von Jahren an die dort vorherrschenden Bedingungen angepasst hat. Aber sammelt man nun ein paar Wildpflanzen und baut die dann auf heimischen Feldern an, funktioniert das meist nicht so wie erhofft. Ein solches Beispiel gab es auch zu Beginn des Projekts: Ein Züchter, der einen Hektar Löwenzahn für uns angebaut hatte, hat uns zu einer Vor-Ort-Besichtigung eingeladen. Ich dachte, ich komme dorthin und es finden sich Streifen blühenden Löwenzahns – in voller Pracht so wie in seinem Ökosystem gesehen. Die Realität war jedoch eine andere: Einige Pflanze wuchsen gar nicht, andere waren ein bisschen größer, sahen ganz normal aus, weitere wiederum wuchsen zunächst und gingen dann einfach ein. Das war ein völlig inhomogenes Bild – nicht sehr schön. Die Herausforderung war nun, wesentliche Merkmale, zum Beispiel eine einheitliche Wuchsform, in möglichst kurzer Zeit zu stabilisieren oder gänzlich neue hervorzubringen, die für den landwirtschaftlichen Nutzen der Pflanze Voraussetzung sind. Das ist exakt, was die Züchtung leistet.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Wir haben dabei gelernt, dass es wichtig ist, die gesamte Wertschöpfungskette gleichzeitig zu betrachten, weil der eine Teil vom anderen lernen muss. Für viele Teile dieser Wertschöpfungskette gibt es keinen, der ein natürliches Mandat dafür hat. Bei Continental hat man sich dafür entschieden, auch für etwas, das nicht Kerngeschäft ist, das Mandat zu übernehmen, weil das Produkt am Ende wichtig ist – für uns und die nachkommenden Generationen. Wenn man mit einer solchen Überzeugung kommt, schafft man es auch, von Grund auf skeptische Landwirte zu einem Wagnis mitzunehmen. Beim Ersten, der es probiert hat, sah das anfangs wirklich katastrophal aus. Die ersten zwei Hektar, die wir hier ausprobiert haben, das war gruselig. Wir hatten schon größte Sorgen, dass wir im Anschluss überhaupt noch Landwirte finden. Aber trotzdem haben sich drei oder vier bereiterklärt und sie sind immer noch dabei. Manche waren skeptisch, machten dann aber doch wieder überzeugt weiter, wenn sie sahen, dass es einen Schritt weiterging, indem man ein Problem löst. Und sie sehen, dass wir sie unterstützen und das Projekt weiterentwickeln, z. B. eine Saattechnik zu entwickeln, oder dass man das Unkraut in den Griff bekommt, auch wenn es dauert.
Wir kennen Löwenzahn als Unkraut, steht im Russischen Löwenzahnfeld der hiesige als Unkraut?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ja, das ist auch in dem Kontext dann ein Unkraut.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Das Problem ist, der einheimische oder gewöhnliche Löwenzahn hat über die Jahrtausende gelernt, hier optimal zu gedeihen, während der Russische Löwenzahn sich bestmöglich an die vorherrschenden Bedingungen in seinem Ursprungsgebiet angepasst hat. Somit hat der gewöhnliche gegenüber dem Russischen Löwenzahn auf heimischen Äckern einen Wachstumsvorteil. Und wenn man jetzt ein Feld nicht pflegen würde, würde der einheimische Löwenzahn so dominant wachsen, dass sein russisches Pendant keine Überlebenschance hätte. Neben Löwenzahn gibt es noch viele weitere Unkräuter, die mittels einer Kombination von mechanischer und chemischer Unkrautbekämpfung auf den Feldern entfernt werden müssen. Es ist wirklich illusorisch zu glauben, dass man Nutzpflanzen auf den Feldern ohne den Einsatz einer intelligenten Pflanzenschutzstrategie wachsen lassen kann.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Viele Herbizid-Strategien von anderen Feldfrüchten sind darauf ausgelegt, Löwenzahn zu vernichten, so auch den Russischen. Also müssen wir etwas finden, das alle anderen Unkräuter bekämpft, aber diesen Löwenzahn überleben lässt. Dazu gibt es in jedem Jahr nur eine Chance, eine Saison, und wenn man den Versuch im nächsten Jahr wiederholt, fällt er mitunter ganz anders aus, weil das Wetter anders war, der Standort vielleicht doch 200 Meter woanders lag. Ein landwirtschaftlicher Versuch, zweimal gemacht und dann kommt exakt das Gleiche heraus, das gibt es eigentlich nicht. Daher sind die fünf oder sechs Jahre, in denen wir bisher in Anklam versuchen, den Anbau zu etablieren, nichts. Das ist einfach eine ganz, ganz kurze Zeitstrecke auf dem Weg dahin, dass man dem Landwirt robuste Regeln an die Hand geben kann. Bei den bisherigen Versuchen hat sich herausgestellt, dass die mechanische Unkrautbekämpfung das Beste ist, aber selbst das ist konventionell schwierig und extrem aufwändig. Daher mussten wir uns etwas Neues einfallen lassen, um mit Einsatz moderner Methoden wie visueller Bilderkennung Lösungen zu entwickeln. Die Herausforderung ist, bereits den ganz kleinen Löwenzahn sicher zu erkennen und so vom Unkraut zu unterscheiden. Die Kollegen, die daran forschen, sagen, wenn das menschliche Auge das kann, dann kann es die Maschine auch – irgendwann. Dazu haben wir letztes Jahr 500.000 Bilder gemacht, um das System zu füttern, damit das dann auch so wird, dass es zielsicher funktioniert.
Die landwirtschaftliche Umsetzung ist im Werden, der Lernprozess braucht, wie die Biologie oder die Züchtung, Zeit. Aber Sie haben auch Maschinen entwickelt und gebaut und sind damit im Bereich der industriellen Umsetzung. Was ist hier geschehen?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Wir sind angetreten, um zum einen die Landwirtschaft weiterzuentwickeln, das ist ein Teil der Forschungsarbeiten, die hier im „Taraxagum Gum Lab“ durchgeführt werden. Ein zweiter Teil ist, einen Extraktionsprozess zu entwickeln. Dazu haben wir mit kleinen Kugelmühlen angefangen, jetzt ist die nächste Generation in Betrieb gegangen: im März 2019 ausgedacht, im März 2020 bestellt, im Dezember 2020 aufgebaut und im Juli 2021 läuft es. Das sind keine Anlagen, die man bei einem Maschinenhersteller bestellen kann, es reicht nicht zu sagen, ich hätte gerne ein Gerät, um das oder jenes aufzuarbeiten. Die Antwort ist sicher: „Und wie soll es aussehen?“ Und wenn ich ihm das nicht sage, können sie es mir auch nicht bauen. Auch für die Dinge, die hier auf der Prozessseite passieren, gibt es Kernprozesse, die man erlernen muss, damit letztlich Kautschuk herauskommt, der qualitativ auch geeignet ist.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Wir haben in Deutschland und Europa keine Naturkautschuk-produzierende Industrie. Auch deshalb mussten viele Methoden und Geräte vollkommen neu entwickelt werden. Das ist auch eine wesentliche Leistung im Projekt gewesen, neben diesen anderen Aspekten, den Löwenzahn überhaupt zu ertüchtigen, dass er das tut, was wir wollen, parallel auch diese Prozesse aufzubauen.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Der Gewinnungsprozess aus dem Hevea brasiliensis ist zudem ein ganz anderer. Dort wird der Latex geerntet und dadurch sind andere Faktoren, wie z. B. Begleitbiomasse, nicht relevant, wenn der Kautschuk gewonnen wird. Das geht beim Löwenzahn nicht, weil nichts herausläuft und man ihn nicht effizient ausquetschen kann. Wir haben das ausprobiert, es funktioniert aber als industriell, ökonomisch sinnvoller Prozess nicht. Also mussten wir uns etwas anderes ausdenken. Auch die Synthesekautschuk-Prozesse waren keine Vorlage. Das sind lösemittelbasierte Prozesse, die wir auf keinen Fall wollten, weil wir einen wasserbasierten Prozess brauchen. Das ist aus ökologischer Sicht der einzig sinnvolle Weg! Wir konnten also nirgendwo eine Anleihe nehmen, sondern mussten einen ganz neuen Weg gehen, Maschinen und ganz neue Prozesse entwickeln. Mit allen Schwierigkeiten, die dazugehören.
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Das war ein entscheidender Faktor in der Entwicklung. Denn die ersten Extraktionen und Separationen von Naturkautschuk haben wir am Fraunhofer Institut mit einem kleinen mittelständischen Unternehmen zusammen erstellt. Irgendwann kam die Anforderung von Continental, dass das in deren industrielle Prozesse umgesetzt werden musste. Diese Anforderungen und schlussendlich auch die an das Produkt sind aber so spezifisch und geheim, dass wir hier entschieden haben, den Prozess zu transferieren. Dadurch haben wir vermieden, dass später größere Hürden in der industriellen Umsetzung entstehen, die den Erfolg des Gesamtprojektes hätten verzögern können. Ich glaube, dass die Umsetzung auf unserer Seite und der Transfer in diesem Teilaspekt des Projektes besonders gut gelungen sind. Wir waren sogar ein bisschen schneller, als wir uns vorgestellt hatten. Jetzt ist es genau richtig, dass im „Taraxagum Lab“ das weiter konzipiert wird, damit der Prozess letztlich industriell umgesetzt werden kann.
Wie erfolgte dann der nächste Schritt zum Produkt, zur Entwicklung des Reifens mit Löwenzahnnaturkautschuk?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Was im Unternehmen Continental intern dafür gesorgt hat, dass das Projekt den Status „Ok, das kann funktionieren“ bekam, war der erste Pkw-Reifen, den wir 2014 gebaut haben. Normalerweise braucht man für einen Reifenbau ca. zwei-, dreihundert Kilo Kautschuk. Wir hatten gut 20. Man braucht auch etliche Reifen, um nur die wichtigsten Eigenschaften zu testen: für Trockenbremsen, Nassbremsen, Rollwiderstand, Abrieb, ungefähr 20! Und das sollte mit 20 Kilo Kautschuk passieren. Einen etablierten Prozess gab es nicht. Im Versuchslabor haben wir dann aus 20 Kilo Kautschuk 40 Kilo Mischung gemacht, eigentlich viel zu wenig, um überhaupt Reifen bauen zu können. Wir haben es trotzdem geschafft, quasi in Handarbeit. Dazu haben wir den Kollegen im Prototypbau gesagt: „Das hier ist die Mischung, die weltweit einzige. Ihr müsst daraus so viele Reifen bauen, dass wir testen können.“ Dann haben wir bei Continental Maschinen umgebaut, komplett umprogrammiert und die Rohlinge gebaut. Damit sind wir nach Aachen ins Werk und haben sie dort geheizt und mir ist ein Stein vom Herzen gefallen, als der erste Reifen aus der Presse kam und aussah wie ein Reifen.
Anschließend haben wir die Reifen auf alle Eigenschaften getestet und dieser Reifen hat sich wie ein normaler Reifen verhalten, das alles mit einem Laufstreifen aus Löwenzahnnaturkautschuk als einzigem Kautschuk. Das war es, was uns alle bis hin zum Vorstand davon überzeugt hat, dass dies ist ein guter Weg ist, der weiter unterstützt wird. Und Continental hat sich als Konzern entschieden, auch das Mandat für die Dinge im Projekt zu übernehmen, die es noch nicht gibt, auch wenn sie nicht zum Kerngeschäft gehören, also letztlich die Freigabe, sehr viel Geld in dieses Einzelprojekt zu investieren.
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Ja, genau. Erfolg basiert immer auf der Begeisterungsfähigkeit der Leute und Mitarbeiter. Das fängt bei uns an, Herr Prüfer, Frau Recker und ich selbst: Aber auch alle anderen in unseren Teams tragen dadurch zum Erfolg bei, dass sie sich begeistern lassen, so selbst hinter dem Projekt stehen und dass sie über die Dinge hinausgehen, die das übliche Arbeitsleben ausmachen. Ein großer Dank muss hier auch einfach mal ausgesprochen werden!
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Allein schon Biologinnen und Biologen für die Reifen zu begeistern …
Dr. rer. nat. Carla Recker
Andererseits auch Ingenieure, die Automobil-Fetischisten sind, vom Löwenzahnprojekt zu begeistern. Die Begeisterung geht in beide Richtungen.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Ja, das ist wirklich gut, wie beide Seiten voneinander gelernt haben, so die Continental-Mitarbeiter und -Mitarbeiterinnen über Biologie, Züchtung usw. und wir, wie ein Reifen gebaut wird.
Heißt das, dass der mit Löwenzahnkautschuk hergestellte Reifen in der Qualität identisch mit dem aus Baumkautschuk produzierten ist?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Identisch würde ich nicht sagen. Es ist eine andere Pflanze, die Zusammensetzung des Kautschuks ist leicht anders. Das merkt auch der Reifen. Ich würde sagen äquivalent, das ist besser. Es gibt Möglichkeiten, bestimmte Dinge auszugleichen, anzupassen, wenn man gleiche Eigenschaften erzeugen will. Unsere Aussage ist, er ist äquivalent und wir können den Reifen, statt mit Hevea-Kautschuk mit Löwenzahnkautschuk bauen. Das funktioniert für Pkw- und Lkw-Reifen. Laufstreifen sind das Erste, was man ausprobiert, denn es ist das komplexeste Anforderungsfeld. Aber es funktioniert auch für die haltbarkeitsrelevanten Bauteile, die innen im Reifen sind, die aber auch entscheidend sind. Wir sehen immer äquivalentes Verhalten. Wir sind uns daher sicher, dass wir irgendwann guten Kautschuk mit einer stabilen Qualität erhalten und den in unseren Produkten einsetzen können – egal in welcher Anwendung.
Das heißt, dass die weitere Entwicklung abhängig von der Menge des Löwenzahnkautschuks ist, den Sie herstellen können?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ja, eine ausreichende Menge ist wichtig, aber das dauert noch etwas …
Gibt es für die Gewinnung dieser Mengen einen Zeithorizont? Kann man so etwas abschätzen?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Wir haben verschiedene Szenarien berechnet, auch wie die nächsten Industrialisierungsschritte aussehen. Es hängt auch davon ab, ob wir weitere Partner für die Idee begeistern können, uns auf dem Weg zu begleiten, konkret Dinge zu übernehmen, die nicht zu unserem Kerngeschäft gehören, Anbaulogistik zum Beispiel oder jemand, der dann für uns als Kunde den Naturkautschuk produziert. Es ist eine langfristige Idee, dass Continental nur einkaufen muss, wenn irgendwann die gesamte Wertschöpfungskette in die Selbstständigkeit entlassen ist. Wir gehen davon aus, dass die nächsten signifikanten Schritte noch in diesem Jahrzehnt passieren und wir dann die ersten Pkw-Serienreifen produzieren. Genau kann man das aber nicht sagen, dazu gibt es zu viele Einflussfaktoren.
Inzwischen hat Continental Fahrradreifen produziert, die am Markt sind?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ja, zum einen fanden wir es nicht richtig, den gewonnenen Naturkautschuk guter Qualität wegzuwerfen. Zum anderen ist es für den Konzern wichtig, auch die nächsten Schritte zu lernen, denn Continental ist im Wesentlichen nicht rückwärts integriert. Das heißt, wir stellen unsere Rohstoffe nicht selbst her, sondern kaufen sie am Markt. Das ist in diesem Fall anders: Wir stellen Löwenzahnnaturkautschuk selbst her und damit sind zusätzliche, für uns neue Prozesse erforderlich. Die kann man mit einem Produkt wie Fahrradreifen gut üben. Das ist ein überschaubarer Produktbereich und man kann daran alle notwendigen Prozessschritte bis zur Serieneinführung überprüfen. Die sind identisch, wenn man Pkw- oder Lkw-Reifenserien an den Start bringen will, aber überschaubarer. Deswegen haben wir uns in Absprache mit den Projektträgern dafür entschieden, ein kommerzielles Produkt aus dem gewonnenen Löwenzahnnaturkautschuk zu entwickeln, denn daran sind bestimmte Randbedingungen geknüpft. So konnten wir den Fahrradreifen tatsächlich am Markt etablieren. Und wir sehen, dass das genau die richtige Entscheidung war!
Und mit Covid-19 kam der Fahrradboom und man braucht viele Fahrradreifen?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Unser Risiko ist die Verfügbarkeit des Löwenzahnnaturkautschuks. Mit einem Fahrradreifen als Produkt können wir darauf am besten reagieren, die Unsicherheiten steuern. Es gibt begrenzte Zahlen der Reifen, die sind regelmäßig ausverkauft, wenn die Saison zu Ende ist, und wir können in der neuen Saison wieder eine neue Auflage anbieten.
Trotz aller Erfolge in Richtung ökologischer Reifen gibt es das Problem des Abriebs, der sich als Mikroplastik in der Umwelt wiederfindet, ein Viertel des Eintrags in die Weltmeere soll Ergebnis von Reifenabrieb sein. Kann Ihre Innovation dafür ebenfalls ökologische Lösungen anbieten?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Das ist schwierig. Einerseits sind wir froh, dass sich der Naturkautschuk aus Löwenzahn nicht von dem des Hevea-Baums unterscheidet. Deswegen würde ich auch, was die Abbaubarkeit beim Austausch des Naturkautschukanteils in der Lauffläche angeht, keine signifikanten Unterschiede erwarten. Durch den Löwenzahnkautschuk wird es also keinen zusätzlichen Vorteil geben, es wird sich aber auch nicht verschlechtern.
Unabhängig davon hat sich Continental dem Problem schon seit längerem gewidmet und es gibt zahlreiche Aktivitäten, zu verstehen, wie Abrieb entsteht, wo der Abrieb bleibt und welche Umweltauswirkungen er hat. Das ist noch nicht vollständig aufgeklärt.
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Naturkautschuk ist beim Abrieb nicht das vordergründige Problem. Der ist von seiner chemischen Natur her eher wenig stabil, wenn er dem Sauerstoff der Luft und der Sonneneinstrahlung ausgesetzt ist. Es sind vielmehr die Zutaten in einer Gummimischung, die den Naturkautschuk haltbar machen und einen Reifen in der Sonne nicht auseinanderfließen lassen. Es ist schwierig, Naturkautschuk, der vom Reifen stammt, in der Umwelt zu finden, weil es dafür keinen direkten Nachweis gibt. Anders als beim Mikroplastik kann man den Abrieb nicht mit Netzen keschern oder durch Sieben aufspüren. Deshalb macht man Studien erstmal auf der Straße und schaut, wie kann man das überhaupt nachweisen. Abrieb ist nicht reiner Gummi, sondern ein komplexes Gemisch aus dem, was vom Reifen kommt, von der Straße und von all dem, was auf ihr liegt, Pflanzenpollen, Staub, Sand und Quarze und Sonstiges. Das hinterher wieder auseinanderzuhalten ist nicht einfach. Deshalb muss man dazu noch viel genauer hinschauen und das machen wir intern und auch mit unseren Projektpartnern.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Der Abrieb der Reifen kann nicht verhindert werden, denn der Reifen hat die Aufgabe, ein Fahrzeug auf der Straße zu halten. Dafür ist es wichtig, dass es einen Reibungskoeffizienten gibt, der das gewährleistet. Abrieb entsteht bei auftretenden Reibprozessen unvermeidlich, aber es sollte möglichst wenig sein und unkritisch von seiner Partikelgrößenverteilung und Zusammensetzung. Das wird mit vielen Forschungsprojekten, die nicht direkt mit dem Löwenzahnkautschuk zu tun haben, in unserer Organisation seit vielen Jahren vorangetrieben. Die Kernaufgabe ist, die Abriebsystematik zu verstehen, ohne den Sicherheitsaspekt zu vernachlässigen.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Es ist ein Vorteil des Löwenzahns, dass wir hier einmalig die Chance haben, die Pflanze genetisch so zu bearbeiten, um auch dieses Thema zu verstehen. Das ist beim Kautschukbaum komplex, denn er ist schwer molekular zugänglich und braucht Generationen, bis man zu Ergebnissen kommt. Wir glauben auch, dass wir beim Löwenzahnkautschuk etwas entdeckt haben, was zukünftig helfen kann, das Abriebverhalten zu verbessern und so das Problem anzugehen.
Was war in der Entwicklungsabfolge Ihrer Innovation für Sie persönlich der entscheidende Schritt?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ich glaube, es gibt nicht den einen, es gibt in der Entwicklungskette mehrere entscheidende Schritte. Der erste war, mit dem kautabakgroßen Stück Löwenzahnkautschuk eine Analyse zu machen, die zeigte, dass im Vergleich mit dem Hevea-Kautschuk das Potential vorhanden ist. Ein großer Schritt war, die ersten zwei-, dreihundert Gramm Kautschuk zu haben und im Labor die erste Mischung zu machen, sie im Vergleich zu einer Hevea-Kautschukmischung zu sehen, zu prüfen und herauszufinden: „Ja, das kann was werden.“ Und natürlich den ersten Reifen in der Hand zu halten, das war dann ein Gänsehautmoment. Denn das war intern entscheidend für den Beschluss, Geld für das Projekt zu verwenden, was durch das tägliche Geschäft hart erarbeitet wird.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Die Fortpflanzung und Genetik verstanden zu haben und mit diesem Wissen ertragsverbesserte Pflanzen zu züchten, waren wesentliche Erfolgsgaranten für das Projekt. So haben wir uns jedes einzelne Gen, das ansatzweise an der Steuerung der Kautschukbiosynthese beteiligt ist, angeschaut. Da steckte und steckt immer noch sehr, sehr viel Arbeit dahinter, viel Zeit, Frust natürlich auch, so drei Jahre arbeitet eine Doktorandin oder ein Doktorand daran. Dabei war die Verknüpfung von grundlegender und angewandter Forschung, wie wir sie hier in unserem Umfeld haben, entscheidend. Die Grundlagenforschung an der Universität Münster gepaart mit Fraunhofer, die wesentliche Innovationen in die Wirtschaft bringen können – das waren dann entscheidende Vorteile.
Gab es irgendwo einen Punkt, wo Sie gedacht haben, das funktioniert nicht?
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Den hatte ich tatsächlich, als wir damals noch mit diesen „falschen“ Pflanzen gearbeitet haben. Das war eine andere Pflanzenart. In botanischen Gärten weltweit ist eine Pflanze als „Taraxacum koksaghyz“, so der botanische Name, abgelegt worden. Als wir mit dieser arbeiteten, habe ich gedacht, dass die nicht wirklich zu den Originalbeschreibungen, die 1933 gemacht worden sind, passt. Sie war zwar ähnlich, aber konnte bestenfalls eine Variante sein. Bis wir nachvollziehen konnten, dass es tatsächlich ein russischer Löwenzahn ist, der in der gleichen Region vorkommt, aber eigentlich eine Mixtur darstellt aus dem, was wir haben wollten und einem dort anders vorkommenden Löwenzahn. Und der produzierte nur sehr viel weniger Kautschuk, als wir brauchten, um überhaupt Entwicklungsarbeiten ansetzen zu können. Das war sehr frustrierend und wir hatten schon tausende Pflanzen angezogen, sie in verschiedenen Prozessen versucht aufzuarbeiten. Es kam fast nichts raus und ich habe gedacht, das darf doch nicht sein, ist das alles Nonsens gewesen, was da beschrieben wurde. Als wir dann die richtige Pflanze bekamen, ging es Schlag auf Schlag. Gott sei Dank ließen sich die grundlegenden biosynthetischen Verständnisse, die wir aus der anderen, der quasi falschen Pflanze generiert haben, ziemlich gut übertragen, zwar komplex, aber auch kein großer Schritt zurück. Man konnte ziemlich gut daran anknüpfen, und wir verwenden auch heute noch aus verschiedenen Gründen beide Systeme. Heute gibt es aus Sicht unserer Arbeiten eigentlich keinen Punkt mehr, warum ich glauben sollte, dass das nicht funktionieren kann.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Ich habe das einmal vorgetragen und man hat uns, naja, ein bisschen den Vorwurf gemacht, wie blöd seid ihr eigentlich, ihr könnt ja die Pflanzen nicht erkennen. Einem guten Freund, der der ausgewiesene Löwenzahnkenner auf diesem Planeten ist, drückten wir den falschen Russischen Löwenzahn in die Hand. Er hatte wirklich Tränen in den Augen und meinte, dass es für ihn das erste Mal in seinem Leben sei, Russischen Löwenzahn zu sehen. Er hatte aber den falschen in der Hand. Also das scheint dann doch nicht ganz so einfach zu sein …
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Wir sind mittlerweile auch ein eingeschwungenes Team: Die Highlight-Momente werden gefeiert, währenddessen überlegen wir aber schon, was der nächste neue Meilenstein sein sollte. Und so ist es auch mit den Niederlagen, 2018 und 2019 waren Dürrejahre, wenn die Ernte mal nicht so groß ausfällt, kann man damit umgehen. Und wir leiten direkt Schritte ein, entwickeln Ideen, um das Risiko zu mindern. Das alles besprechen wir miteinander. Ich glaube, das hilft.
Wie ist das mit Wettbewerb und wie sind Ihre Entwicklungen geschützt?
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Es gibt bei allen Entwicklungsschritten möglicherweise Schutzrechte, die man anmelden kann. Wissenschaftlich gesehen möchte man die Erkenntnisse gerne publizieren. Es wird daher immer zunächst überprüft, ob eine Anmeldung von Schutzrechten sinnvoll und notwendig ist, oder ob man wissenschaftlich publiziert. Mit einer Publikation, egal ob in einem Fachjournal oder als Patent, gibt man immer Informationen an die Öffentlichkeit und schafft damit einen Stand der Technik. Im technischen Bereich ist das notwendiger als in anderen Bereichen des Projektes. Für den Bereich der Pflanze gibt es andere Möglichkeiten, z. B. durch den Sortenschutz, Fortschritte zu schützen, da wird das Thema Schutzrechte anders aufgegriffen. Wir haben bereits in allen Bereichen schützenswerte Erfindungen gemacht, die uns einen Vorsprung gegenüber der Konkurrenz schaffen. Wir wissen, dass es weltweit Aktivitäten gibt, in Europa in den Niederlanden, in den USA oder in China, die darauf hindeuten, dass hier Ähnliches erforscht wird. Wir haben aber nicht das Gefühl, dass wir hintendran sind, sondern eigentlich eine Vorreiterrolle einnehmen. Das bestärkt uns auch, mit Geschwindigkeit weiterzumachen.
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Ich sage immer, wenn es keine Wettbewerber geben würde, wäre das kein Produkt, das man entwickeln sollte. Gerade in Industrienationen wie den USA gibt es deutlich sichtbare Aktivitäten. Das bestärkt uns, dass wir auf dem richtigen Weg und in den Ergebnissen den anderen einiges voraus sind. Wenn man nur den Mehrbedarf oder die Unterdeckung, die bis 2050 prognostiziert worden ist, mit Löwenzahnkautschuk decken wollte – dazu haben wir eine Berechnung gemacht bei einer Tonne Ertrag pro Hektar – dann bräuchte man ungefähr die Fläche von Mallorca. Es kommt auch immer wieder die
auf, wie viel Land die Produktion des gesamten Bedarfs an Naturkautschuk mit Löwenzahn benötigen würde – dies würde ungefähr der Größe der Schweiz und Österreichs entsprechen.
Dr. rer. nat. Carla Recker
In Deutschland gibt es Vorbehalte, die aus der Flächennutzung beim Mais und durch die Biogasdiskussion zu erklären sind. So prominent wird man den Löwenzahn nicht sehen, wenn wir für den deutschen Bedarf produzieren. Auf Deutschland bezogen würden wir nur fünf bis sechs Prozent der aktuellen Mais-Anbaufläche für Löwenzahn brauchen, um den gesamten deutschen Bedarf zu decken. Unser Ziel ist zudem nicht, den Gesamtbedarf zu ersetzen, sondern eine gesunde Koexistenz beider Naturkautschukquellen zu etablieren.
Welche Produkte könnten – außer Reifen – aus dem Löwenzahnkautschuk entstehen?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ein Großteil in der Wurzel selbst ist ein Kohlehydrat, das sog. Inulin. Dafür gibt es mehrere Verwendungen, als Lebensmittel, z. B. in Joghurt mit Darmflora-fördernder Oligofructose ist Inulin beinhaltet. Das wird heute aus der Chicorée-Wurzel gewonnen. Inulin selbst ist auch ein gut strukturierter chemischer Rohstoff, aus dem man Materialien wie z. B. Polyethylenfuranoat, ein Polymer, gewinnen kann, das man als Alternative zu Polyester verwenden könnte. Auch eine energetische Verwertung von den weiteren Pflanzenbestandteilen ist denkbar. Bioethanol, Energie in irgendeiner Form, Biogas ist auch ein mögliches Koppelprodukt, oder Tierfutter. Für diese Produkte gibt es etablierte Verwertungspfade, die müssen wir nicht als Kernkompetenz neu entwickeln. Wir müssen in unseren Prozessen herausfinden, wo diese Stofffraktionen verbleiben, damit man sie zielgerichtet in entsprechende Prozesse und Strukturen weiterreichen kann. Denn wir brauchen ja nur die ca.10 Prozent Kautschuk der Trockenmasse, dann sind 90 Prozent der Biomasse übrig, die man anders verwerten kann.
Wir möchten jetzt auch noch etwas von Ihnen persönlich wissen.
Frau Dr. Recker, Sie haben ein Doppelstudium absolviert, Chemie und dann Umweltwissenschaften und das in einer Zeit, als „Umwelt“ noch nicht so in Mode war. Was hat Sie dazu bewogen?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ein Stück weit habe ich versucht, aus der Not eine Tugend zu machen. 1995 habe ich meine Promotion abgeschlossen und zu der Zeit war der Arbeitsmarkt für Chemiker eigentlich nicht existent, das zeichnete sich schon ein, zwei Jahre vorher ab. Was ist, falls ich keinen Job finden sollte? Ich wollte die Zeit nicht irgendwie nutzlos verbringen. Damals wurde ein Fernstudium für Umweltwissenschaften von der Universität Rostock ins Leben gerufen und nachwachsende Rohstoffe spielten schon in meiner Promotion eine wesentliche Rolle. Da habe ich das Studium angefangen. Es hat sehr viel Spaß gemacht und bringt mich heute an vielen Stellen weiter. Wir hatten z. B. in Bodenkunde Themen, die mir jetzt helfen, wenn ich mit einem Landwirt rede und er mir sagt: „Ja, ich habe nur 20er-Böden.“ Dann weiß ich damit etwas anzufangen.
In meiner Doktorarbeit am Zuckerinstitut in Braunschweig habe ich alles über Zuckerherstellung erfahren, mein Doktorvater hat uns regelmäßig mitgenommen, um uns zu zeigen, wie eine Zuckerfabrik arbeitet. Für einen Verfahrenstechniker ist der Zuckerprozess eine Spielwiese, weil quasi jede Verfahrenstechnik, die es gibt, hier abgebildet ist. Man fokussiert sich nicht nur auf eine, Destillation oder Extraktion z. B., in der Zuckerfabrik gibt es sie alle. Auch das hilft mir heute, viele Fragestellungen sind einfach ähnlich. Löwenzahn ist ebenfalls ein pflanzliches Produkt, das man extrahiert, wo am Ende etwas übrigbleibt, was man für das eigentliche Produkt nicht braucht.
Viele Fragestellungen sind mit den damaligen Erfahrungen verknüpft, auch der Gedanke umweltgerecht zu arbeiten. Lösemittel waren in unserem Arbeitskreis verpönt, Alkohol war so das „Schlimmste“, was erlaubt war. Alles andere war für die Prozesse, die wir in der Doktorarbeit entwickelt haben, tabu, Wasser war das Lösungsmittel der Wahl. Das alles zusammen hat sich als gute Prägung erwiesen, jetzt bei entsprechenden Anforderungen ein ökologisch vernünftiges Gesamtsystem zu entwickeln.
Dann sind Sie ja direkt bei Continental eingestiegen …
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ja fast. Ich habe zwischendurch noch fünf Monate als Gefahrstoffbeauftragte im Krankenhaus gearbeitet. Auch das war eine hilfreiche Erfahrung.
Ab wann ist in Ihrer beruflichen Entwicklung der wirtschaftliche Aspekt zur Umweltprägung hinzugekommen? Wann konnten Sie mit diesen Erfahrungen ein wirtschaftliches Projekt begleiten und entwickeln?
Dr. rer. nat. Carla Recker
Da kommen viele Dinge zusammen, um als Forscher eine Arbeit in ein wirtschaftliches Projekt zu überführen, man muss das auch lieben. Dann braucht man auch die entsprechenden Erfahrungen dazu, ein sparsamer Umgang mit Ressourcen, wirtschaftliches Denken, das ist mir von zu Hause mitgegeben worden. Nicht zuletzt muss sich die Gelegenheit ergeben, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein und es muss die Freiheit geben, es zu dürfen. All das muss zusammenkommen. Einen einzelnen konkreten Zeitpunkt gab es nicht.
Um dann erfolgreich zu sein, ist es wichtig, dass das Gesamtkonzept trägt, und dass man, wenn man Neues entdecken will, immer eine gesunde Neugier hat. Es ist mir auch nach fast 15 Jahren nicht langweilig, weiter am Naturkautschuk des Löwenzahn zu forschen. Ich habe noch 1.000 Fragen und bin neugierig auf die Antworten. Und wenn ich die habe, fallen mir bestimmt neue Fragen ein. Das macht, glaube ich, den Erfolg aus, dass man mit Begeisterung Dinge weiterträgt, auch andere, die skeptisch sind, überzeugt. Ich glaube, dass es richtig ist, was ich hier tue. Und – dass am Ende es auch meinen Arbeitgeber nach vorne bringt!
Wie war denn das bei Ihnen, Herr Prof. Prüfer, Biologie, wer oder was hat Sie dorthin gebracht?
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Eigentlich schlug mein Herz für Luft- und Raumfahrttechnik, das schien spannend, war eher naiv, weil ich mich nicht richtig erkundigt habe, was man bei Luft- und Raumfahrttechnik tun muss. Dann – ich habe damals den klassischen Zivildienst im Krankenhaus gemacht – lag auf der Station ein Professor für Luft- und Raumfahrttechnik und der hat mir dann sehr anschaulich gezeigt, dass ich es vielleicht besser nicht machen sollte …
Nach meinem Biologiestudium war ich für zehn Jahre an einem Max-Planck-Institut. Das ist eine Umgebung, in der man sich voll auf Grundlagenforschung konzentrieren kann. Zwischenzeitlich gab es Auslandsforschungsaufenthalte, Frankreich und Australien, dabei habe ich andere Denkweisen kennen und schätzen gelernt, was sehr hilfreich war. Anschließend bin ich in die Fraunhofer Gesellschaft gewechselt und habe dort den mehr anwendungsbezogenen Teil der Forschung kennengelernt. Dann kam der Ruf an die Uni Münster, wo ich in Zusammenarbeit mit Fraunhofer nun grundlegende und angewandte Forschung betreibe. Damit versuche ich neue Nutzpflanzen zu etablieren, die Probleme verbessern.
Herr Dr. Schulze Gronover, Sie haben Biologie studiert, promoviert und sich dann auch noch der Betriebswirtschaftslehre für Naturwissenschaftler zugewandt. Wie sind Sie dazu gekommen?
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Der innere Antrieb war, dass ich merkte, dass nur grundlegende Forschung nicht das ist, was ich langfristig machen möchte. Ich wollte auch verstehen, wie es in der Industrie läuft, aus welchem Anreiz oder Hintergrund betrachtet man dort die Forschung. Dazu brauchte ich aber weitere Kenntnisse. Und zum Zeitpunkt meiner Dissertation gab es für Biologen nicht Jobs wie Sand am Meer, darauf wollte ich vorbereitet sein. Es gab an einem Lehrstuhl die Möglichkeit, sich betriebswirtschaftlich als Naturwissenschaftler fortzubilden. Dort habe ich Bilanzierung, Innovations- und Risikomanagement kennengelernt, alles das, worauf Partner aus der Industrie generell und wir jetzt in diesem Projekt auch aufpassen, dass wir nicht aus dem Rahmen laufen. Das lernt man so ganz gut zu verstehen. Zudem erleichtert es die Kommunikation und das Verständnis für Abläufe in der industriellen Forschung.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ein Studium zu machen, ist ja oft wie eine Sprache zu lernen, damit man sich unterhalten kann. Und ein Stück weit ist es das, was multidisziplinäre Teams ausmacht. Sie haben verschiedene Erfahrungshorizonte, aber sie müssen miteinander reden können. Und da hilft es, wenn man ein wenig über den Tellerrand geblickt hat!
Rechnen ist aber das Stichwort. Kann man Innovation wie Ihre planen?
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Innovation planen – man versucht ja immer mehr zu verstehen, wie sich Themen oder Märkte über Jahrzehnte in der wirtschaftlichen Entwicklung durchgesetzt haben. Und man schaut, welche Handlungs- oder Forschungsstränge zu Innovationen geführt haben. Das ist ein spannendes Forschungsfeld und wir versuchen, diese Erkenntnisse in unsere Arbeit einfließen zu lassen. Daraus kann man für sich, das Institut oder auch einen Industriebetrieb ableiten, wo man mehr investieren sollte oder wo Innovationen entstehen können, weil etwas gesamtgesellschaftlich relevant ist. Ich glaube jedoch, dass man die punktgenaue Innovation nicht planen kann, sondern Visionen als Innovationstreiber nutzen muss. Und dann bedarf es einiger geistigen und finanziellen Freiheit ...
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Innovationen sollten einen unmittelbar sichtbaren Nutzen für Mensch und Umwelt haben, wenn man in der Öffentlichkeit auf Akzeptanz stoßen möchte. Viele Innovationen verpuffen oftmals, weil der direkte Nutzen nicht ersichtlich wurde – was schade ist. Im Löwenzahnprojekt war dieser von Anfang an gegeben, da wir eine alternative Naturkautschukproduktion anstreben, die umweltverträglicher ist als die derzeit vorherrschende in Südostasien.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ich glaube selbst auch, dass Innovation nicht wirklich planbar ist. Wenn man Dinge nur vorwärts denkt, kommt man selten auf Lösungen oder keine besonders smarten. Vielleicht ist die besonders smarte Lösung dann eher die Innovation als die Lösung an sich. Ob irgendetwas eine große Innovation gewesen ist, kann man eigentlich erst in der Rückschau bewerten, wenn sie die Welt vorangebracht oder neue Bedarfe gedeckt hat.
Daher kann man einen Fünfjahresplan „Innovation“ auch nicht einfach aufstellen. Man muss bei vielen Dingen mutig genug sein, die Chancen zu erkennen, auch Ungewöhnliches zulassen und auch offen genug sein, Ergebnisse, so wie sie sind, zu sehen und nicht ein Wunschdenken hineininterpretieren. Innovation kommt ein Stück weit daraus, wirklich mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, Dinge in Frage zu stellen, versuchen sie zu verstehen, hineinzuschauen …
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
…und kommunizierbar zu machen. Das ist ganz wichtig.
Was bedeutet Ihre Arbeit für die Gesellschaft?
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Wir haben aus der breiten Öffentlichkeit sehr, sehr positive Rückmeldungen erhalten. Man kennt diese Pflanze, den Löwenzahn. Dass daraus nun etwas Unerwartetes gewonnen wird, und das auch nachhaltiger als zuvor, stößt auf breite Zustimmung. Löwenzahn scheint für viele ein Symbol für Ökologie zu sein, auch wenn ihn keiner so gerne im Garten sieht. Auch stellt der Löwenzahn eine neue wertvolle Pflanze für die Landwirtschaft dar, vor allem für Regionen, wo man nicht viel anbauen kann. Wir sehen auch, dass er eine gute Futterpflanze für Insekten ist. Mir ist besonders wichtig, dass wir mit dieser Entwicklung auch den Herausforderungen der momentanen Naturkautschukproduktion begegnen können. Auch hier erhalten wir sehr positive Rückmeldungen. Das ist unser Beitrag für die Gesellschaft. Das können wir leisten.
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ich glaube, dass dieses Projekt die Gesellschaft wahrnehmen lässt, dass die Industrie auch Verantwortung übernimmt. Verantwortung für ihre eigenen Produkte, aber auch darüber hinaus, denn Continental investiert hier in Entwicklungen, die mit dem Kerngeschäft nichts zu tun haben. Das wird auch in Anklam und darüber hinaus erkannt und nicht als „GreenWashing“ verstanden. Dafür sind unsere Fortschritte und Erfolge zu manifestiert und das kommunizieren wir auch so. Wir haben von Anfang an eine sehr zurückhaltende Kommunikation betrieben, um ein wirklich verlässlicher Partner für unsere Projektpartner, unser Netzwerk, aber auch ein verlässlicher Partner für die Gesellschaft zu sein, weil wir die Aufgabe haben, den Reifen als Produkt nachhaltiger zu machen. Das ist, glaube ich, eine wesentliche Wahrnehmung des Projektes innerhalb und außerhalb von Continental.
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Ich kann dem nur beipflichten. Was ich wirklich sehr positiv finde, ist, dass das Projekt den gesamten Naturkautschukmarkt beleuchtet und in Bewegung bringt. Hier entsteht Neues und das nimmt auch der Wettbewerb in Südostasien wahr. Damit haben wir auch indirekt positive Effekte auf die Umwelt, die Arbeitsbedingungen im Anbau und die Aufbereitung von Naturkautschuk in Südostasien. Ein Stück gesellschaftlicher Wandel in der Naturkautschuk-Industrie.
Hier vor Ort ist es super, wenn man mit Studentinnen und Studenten dieses Projekt so durchspielt: Man fährt mit ihnen zum Züchter, aufs Feld, man gräbt Pflanzen aus und analysiert diese, extrahiert den Kautschuk. Diese praktische Bearbeitung geht für die Studentinnen und Studenten, die forschen, das Labor im Institut und maximal noch ein Gewächshaus kennen, immer mehr verloren. Und man kann sogar zeigen, dass etwas herauskommt, die Kette endet beim Produkt, dem Naturkautschuk und schließlich dem Reifen. Das ist Horizonterweiterung in dem Sinn, dass man sich selbst auch als Forscher in so einer langen Wertschöpfungskette wiederfinden kann. An unserem Projekt können wir zeigen, dass die Pflanzenforschung in Deutschland attraktiv ist, wir brauchen ambitionierten Forschernachwuchs, mehr denn je.
Letzte Frage. Was gibt es denn außer Löwenzahn, Gummi und Reifen in Ihrem Leben?
Prof. Dr. rer. nat. Dirk Prüfer
Mein Ausgleich ist, dass ich viel reise, was im Augenblick ein wenig Probleme macht. Ich liebe andere Länder, andere Kulturen. Es gibt auch an den Universitäten viel Routine. Dann einfach mal abschalten und reisen …
Dr. rer. nat. Carla Recker
Ich bin begeisterte Drachenbootsportlerin, was durch Corona schwierig ist, weil es als Kontaktsportart gilt. Wir brauchen 22 Leute im Boot. Aber seit Juni dürfen wir wieder fahren! Der Drachenbootsport ist eine großartige Sportart, weil man allein nichts ausrichten, aber gemeinsam viel erreichen kann. Und das spiegelt sich auch in diesem Projektteam wider. Wenn fünf Leute im Boot sagen, so oder so geht es, läuft das im Drachenboot komplett schief. Das geht nur miteinander, wenn man versteht, wie die verschiedenen Rollen sind. Im Boot gibt es zehn Sitzbänke hintereinander. Viele denken, dass der, der hinten sitzt, weniger kann. Das stimmt nicht. Die Paddler auf der zehnten Bank sind genauso wichtig wie die Schlagleute auf der ersten. Wenn einer hinten Mist paddelt, dann paddelt das ganze Boot schlecht.
Das ist für mich ein guter Ausgleich. Es ist auch die Art und Weise, wie man in der großen Drachenboot-Community miteinander umgeht. Man ist Gegner, wenn man am Start liegt und nach dem Ziel ist es wieder eine große Familie und ein großartiges Miteinander. Das sorgt dafür, dass man sich auch gedanklich-geistig von den täglichen Problemen entfernen kann.
Dr. rer. nat. Christian Schulze Gronover
Bei mir sind vor allem die Kinder und die Familie der Ausgleich, der dazu beiträgt, dass man ganz schnell auf andere Gedanken kommt, sobald man zu Hause ist. Ansonsten bin ich viel in der Natur unterwegs, als jagender Naturschützer vielfach engagiert zum Beispiel im Anlegen von Naturschutzmaßnahmen, ob es Blühstreifen oder Nistkästen sind. Ich hole mir meine innere Ruhe, indem ich manchmal einfach in der Natur sitze oder spaziere und beobachte.
Vielen Dank für das Gespräch.