Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
In der Dämmerung und bei Dunkelheit passieren etwa 30 % der tödlichen Unfälle, obwohl das durchschnittliche Verkehrsaufkommen in diesem Zeitraum auf etwa 15 % sinkt. D. h. es besteht ein überproportional großes Risiko, bei Nacht zu verunglücken. Und dagegen wollten wir etwas tun. Wir, damit meine ich die Entwickler von Mercedes und Bosch. Wir arbeiten schon seit vielen Jahren gemeinsam an dieser Aufgabenstellung. Begonnen haben wir seinerzeit mit der Optimierung der Beleuchtung, Xenon- und Bixenon-Scheinwerfer waren dabei die ersten Schritte, gefolgt von Abbiegelicht und unserem adaptiven Kurvenlicht. Jetzt haben wir mit der neuen Mercedes-Benz S-Klasse den Nachtsicht-Assistenten auf den Markt gebracht. Und dieser hilft uns noch einmal, diese Ziele zu verwirklichen.
Nachts sind die Sichtverhältnisse schlechter als tagsüber. Welche Art von Unfällen passieren?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Beim Großteil der Unfälle kommen die Fahrzeuge von der Fahrbahn ab, weil die Fahrer den Streckenverlauf nicht mehr richtig erkennen können. Solche Situationen lassen sich deutlich entschärfen, wenn man die Sichtverhältnisse verbessert.
Reichen die verbesserten Scheinwerfer, die Sie erwähnten, dazu nicht aus?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Natürlich helfen diese schon sehr viel. Aber es gibt auch Situationen – wie etwa bei Gegenverkehr –, in denen man kein Fernlicht verwenden kann und weiterhin mit Abblendlicht fahren muss. Deshalb haben wir mit dem Nachtsicht-Assistenten eine Art „elektronisches Fernlicht“ entwickelt, bei dem die Fahrbahn mit Infrarotlicht beleuchtet wird. Und weil dieses für das menschliche Auge nicht sichtbar ist, wird der Gegenverkehr dadurch auch nicht geblendet. Das hat den Vorteil, dass man das System prinzipiell immer eingeschaltet lassen kann. Hinter der Windschutzscheibe ist eine Kamera installiert, die die Szene vor dem Fahrzeug aufnimmt und als qualitativ sehr hochwertiges Schwarz-Weiß-Bild auf einem großen Display in der Instrumententafel darstellt. So kann der Fahrer die Verkehrssituation innerhalb kürzester Zeit erfassen.
Es gibt unterschiedliche Technologien, die Ziele zu erreichen, die Sie sich gesteckt haben - die bessere Nachtsicht. Können Sie die Unterschiede dieser Technologien grob umreißen?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Es gibt im Prinzip zwei Verfahren, um Nachtsichtsysteme zu realisieren. Das eine Verfahren nutzen die so genannten passiven Systeme, das sind solche, die die Wärmestrahlung von Objekten erfassen. Menschen und Tiere strahlen Wärme aus. Und diese Wärmestrahlung wird dann direkt im Videobild sichtbar als helle Bereiche. Alles, was wärmer ist als die Umgebung, zeichnet sich hell gegen das Umfeld ab. Dieses Verfahren ist in der Militärtechnik schon seit vielen Jahren etabliert. Das Bild, das man dort sieht, ist jedoch für normale Autofahrer fremdartig, weil es nicht dem normalen Erscheinungsbild des Schwarz-Weiß-Reflexionsbildes entspricht. Diese Qualität kann man jedoch mit dem so genannten aktiven System – das wir realisiert haben – erreichen. Beim zweiten Verfahren, dem aktiven System, wird, wie Herr Seekircher das schon erklärt hat, selbst Licht im unsichtbaren Wellenlängenbereich ausgesendet. Dieses Licht wird von Gegenständen reflektiert, so wie es beim sichtbaren Licht der Fall ist. Das Bild kann dann von einer Kamera, die in diesem Infrarotbereich empfindlich ist, aufgenommen und als hoch aufgelöstes, brillantes und kontrastreiches Videobild im Cockpit dargestellt werden.
Zum Nachtsicht-Assistenten: Beschreiben Sie bitte das Wesentliche Ihres Projektes, die einzelnen Komponenten und die Wirkung.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Der Nachtsicht-Assistent besteht im Wesentlichen aus drei Komponenten: Als Erstes die Infrarot-Scheinwerfer, die nicht sichtbares Licht auf die Straße werfen und sie beleuchten, aber so, dass der Gegenverkehr nicht geblendet wird.
Dann gibt es als Zweites eine Kamera, die in diesem Wellenlängenbereich empfindlich ist, das Bild aufnimmt und bearbeitet. Die dritte wichtige Komponente ist das Kombi-Instrument, in dem das Videobild dargestellt wird. Wir haben ein großes Display im Kombi-Instrument, das dafür sorgt, dass der Fahrer sich auch sehr schnell zurechtfindet. Mit einem ganz kurzen Blick auf dieses Instrument kann der Fahrer dann auch identifizieren, ob vor ihm die Verkehrssituation klar ist oder ob die Gefahr einer Kollision mit Fußgängern, Tieren oder anderen Hindernissen auf der Fahrbahn besteht.
Das ist aber noch nicht ganz das Wesen dieser Innovation. Da gehört doch sicher Bildbearbeitung, Steuerung etc. dazu?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Das Besondere des Projektes liegt letztendlich darin, dass sehr viele interdisziplinäre Fraktionen zusammenarbeiten. Zur Innovation gehören die speziell entwickelte Videokamera, deren Optik und Mikrochip sowie der leistungsstarke Computer mit der Bildbearbeitungssoftware und der Darstellung des scharfen, kontrastreichen Nachtsichtbildes auf dem Display. Wir bauen so ein System von der Komponentenentwicklung über die Softwareentwicklung und die Applikation bis hin zur Integration in das Fahrzeug. Kunde und Zulieferer sind hierbei eng verbunden.
Das Besondere - wenn man noch weiter in die Tiefe geht - eines solchen Projektes liegt auch darin, dass die Kräfte vieler Fraktionen zu bündeln sind und dabei viele Menschen zusammenarbeiten. Es kommt also darauf an, diese Menschen so zusammenzubringen, damit am Ende ein sehr gutes Produkt entsteht.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Begonnen haben unsere Arbeiten mit dem so genannten Prometheus-Projekt, einem sehr großen Forschungsprojekt, das 1987 von der EU gestartet und gefördert, wurde. Maßgeblich vorangetrieben wurde es durch Dr. Panik von DaimlerChrysler, der auch im Steeringboard des Projekts vertreten war. Damals hat man im Prinzip die wesentlichen Gedanken für den unfallfreien Straßenverkehr bzw. einen Straßenverkehr mit höchster Effizienz zusammengetragen und auch experimentell umgesetzt. Nur, damals waren die Prozessoren und die Sensoren mit entsprechender Leistungsfähigkeit noch nicht vorhanden. Man brauchte den Stauraum von Kombis oder Transportern, weil die Elektronik mehrere Kubikmeter groß war; die Sensoren hatten damals auch nur eingeschränkte Detektionseigenschaften. Seit einigen Jahren ist diese Technik verfügbar, und jetzt ist die Zeit reif - auch angesichts der Mission der EU, die Zahl der Unfalltoten bis zum Jahre 2010 auf die Hälfte zu reduzieren -, dieses Thema konkret umzusetzen.
Mehr noch: Wir haben mit diesem System jetzt die Videotechnik im Auto als ganz wichtigen Baustein für die aktive Unfallvermeidung eingeführt, als aussichtsreiche Einzeltechnologie wie auch als Ergänzung zum Radar. Unser Ziel ist genau das, was im Prometheus-Projekt damals formuliert wurde: den Straßenverkehr so unfallfrei wie möglich zu machen.
Wie viele Menschen verunglücken nachts?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
In Europa gibt es auf Basis der Statistik aus 2004 etwa 18.000 Verkehrstote pro Jahr bei Unfällen, die nachts passieren.
Sie hatten die Idee, haben sich zusammengesetzt ... War das spontan, oder ist das als Prozess im Kontext mit der anderen Seite Schritt für Schritt entstanden?
Wie sah Ihr Team aus, waren weitere Zulieferer eingebunden?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Zuerst stand der Entschluss, ein solches System mit der neuen S-Klasse auf den Markt zu bringen. Dort war es möglich, das große Display zu platzieren, was die beste Voraussetzung für eine gute optische Darstellung des Nachtsichtbildes ist. Bei der Suche nach dem richtigen Partner haben wir an unsere Beziehungen mit Bosch angeknüpft, die aus dem früheren Forschungsprojekt Prometheus resultieren. Dann haben wir gemeinsam nach den besten Lösungen gesucht. Und gerade bei den Optiken muss man die besten Lösungen haben. Da ist die Auswahl sehr klein.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Wir sind natürlich auch auf unsere Zulieferer angewiesen. Die haben wir gemeinsam nach den harten Kriterien, die wir an ein solches System stellen müssen, ausgesucht. Und gerade die Optik ist eine ganz wichtige Komponente, die muss einfach perfekt sein, denn das Bild wird ja angezeigt, und der Mensch ist sehr kritisch, was Bildqualität angeht. Er ist durch das Fernsehen eine hohe Güte gewohnt; und man darf dem Betrachter kein schlechteres Bild anbieten; er würde es nicht akzeptieren.
Wann konkret haben Sie mit dem Projekt angefangen?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
2000 waren die Vorgespräche, 2001 wurde es dann konkret gestartet. Es ging sehr zügig voran. Nach etwa einem halben Jahr hatte man die ersten Teile zum Testen und zum Optimieren. Die waren natürlich weit weg von dem, was man sich vorgestellt hatte. Zum Beispiel hat der Bildsensor sehr stark gerauscht, das war ein grieseliges Bild, das so nicht akzeptiert werden konnte. Und da sind wir Schritt um Schritt zusammen mit unseren Zulieferanten die Optimierung angegangen. Und wir haben uns und unsere Zulieferer hart in die Pflicht genommen.
Und irgendwann hat ein Mensch das dann zum ersten Mal getestet?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, da subjektive Kriterien bei diesem Thema eine sehr große Rolle spielen. Um die notwendige Homogenität zu erzielen, haben wir von jedem Unternehmen, sowohl von Bosch als auch von DaimlerChrysler, einen so genannten „Geschmacksminister“ benannt, der in der Lage ist, den Geschmack des breiten Publikums möglichst objektiv widerzuspiegeln. Außerdem wurde seine Sehfähigkeit augenärztlich untersucht. Das war die Instanz, die beurteilte, ob ein Bild besser oder schlechter geworden ist und besser akzeptiert oder nicht akzeptiert wird. Ist dann ein Konsens gefunden, kann man diesen im Labor detailliert vermessen und als objektive Referenz nutzen.
Woher nehmen Sie die Sicherheit, dass der Fahrer nicht abgelenkt wird, wenn er diesen Nachtsicht-Assistenten im Wagen hat?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Wir haben das sehr sorgfältig geprüft. Wir bieten kein System an, das eine Gefährdung darstellt. Was wir erfahren haben, ist, dass die Fahrer sich schnell an dieses System gewöhnen und es dann auch sehr bewusst in Situationen mit eingeschränkter Sicht nutzen. Eine typische Situation: entgegenkommender Verkehr, neben dem entgegenkommenden Fahrzeug, durch das man geblendet wird, sind keine Details zu erkennen, also übersieht man dann einen Fußgänger oder einen Radfahrer. In einem solchen Fall leuchtet der Nachtsicht-Assistent die Fahrbahn aus, der Fahrer schaut kurz auf den Bildschirm, erkennt im Gefahrenbereich einen Gegenstand oder eine Person und kann entsprechende Ausweichmanöver einleiten. Es ist also nicht so, dass die Fahrer versuchen würden, nach Bildschirm zu fahren. Wir konnten aber feststellen, dass sich der Fahrer unwohl fühlt, wenn er während der Fahrt längere Zeit auf das Display schaut. Die Orientierung in der eigenen Spur erfolgt über das periphere Sehen, und das geht verloren, wenn er nach unten schaut. Der Fahrer blickt dann sehr schnell wieder durch die Windschutzscheibe. Er liest sozusagen die Informationen mit einem kurzen Augenblick im Sinn des Wortes ab, ähnlich dem Ablesevorgang der Geschwindigkeitsanzeige.
Das Display des Nachtsicht-Assistenten ist während der Fahrt ständig eingeblendet?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Sobald das System eingeschaltet ist, erscheint das Bild im Instrumentenbereich, und an dessen unterem Rand wird ein Bandtachometer eingeblendet. So hat der Fahrer - während er den Tacho abliest - gleichzeitig die Verkehrssituation vor seinem Fahrzeug im Blick.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Die Anzeige ist in dieser Einbauposition zwar im zentralen Blickfeld des Fahrers, aber eben doch so weit vom normalen Blickfeld weg, dass er nicht irritiert wird und das Auge nicht dazu verführt wird, dauernd hinzuschauen. Es ist eine klare Trennung da von dem, was außen und was innen wahrgenommen wird, der Fahrer führt einen bewussten Blickwechsel durch.
Diese Sehgewohnheiten haben Sie auch dazu veranlasst, auf die aktive Infrarot-Technologie zu setzen. Das ist wie ein zweiter Blick einfach nur in eine andere Ebene?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Das System hat den großen Vorteil, dass der Blickwinkel der Kamera dem Ausschnitt gleicht, den der Fahrer sieht. Das Erscheinungsbild des aktiven Infrarotbildes ist dem Fahrer sehr vertraut. Es entspricht einem anderen gewohnten Erscheinungsbild, beispielweise wie im Rückspiegel. Das passive Infrarotbild - oder Wärmebild - dagegen ist doch sehr interpretationsbedürftig, und das System zeigt keine kalten Gegenstände. Wenn zum Beispiel eine Kiste auf der Straße liegt, die durchaus eine akute Gefahr darstellt, ist sie im Wärmebild nicht erkennbar, da sie sich in ihrer Temperatur von der Umgebung nicht unterscheidet. Mit dem aktiven Infrarotsystem sehen wir die Kiste natürlich sehr gut.
Lassen Sie uns noch einmal auf das Verfahren kommen: Was ist das wirklich Innovative, das mit der Nominierung zum Deutschen Zukunftspreis gewürdigt wird?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Da ist zum einem die ganz hervorragende Kamera, die wir speziell für den Nachtsicht-Assistenten entwickelt haben. Sie ist in mancher Hinsicht sogar besser als das menschliche Auge, gerade in Gegenlichtsituationen. Wenn Sie bei Nacht in einen Scheinwerfer schauen, können Ihre Augen nicht erkennen, ob daneben noch ein Gegenstand oder eine Person ist. Unsere Kamera kann das. In dieser Hinsicht ist sie besser als das menschliche Auge.
Dann haben wir erstmalig in Europa ein solches Nachtsichtsystem in einem Auto. Das trägt dazu bei, die Verkehrssicherheit - vor allem bei Dunkelheit - zu erhöhen, und stößt bei den Kunden auf eine sehr positive Resonanz. Und die Tatsache, dass wir zum ersten Mal eine Kamera im Auto haben, die nach vorne blickt, ist ein sehr guter Ausgangspunkt für weitere, künftige Entwicklungen. Das sind also zwei Themen: Einmal die Gegenwart, sprich unser System, das wir am Markt haben. Und dann noch die Zukunftsperspektive: Die Menschen haben die Verkehrsinfrastruktur so angelegt, dass sie sich mit ihren Augen darin orientieren können. Und diese Fähigkeit haben wir jetzt ins Fahrzeug gebracht. D. h. wir verpassen dem Auto elektronische Augen, und das wird nochmal eine Vielzahl an Möglichkeiten für neue Applikationen - und damit an künftigen Sicherheits-, Assistenz- und Komfortsystemen - mit sich bringen.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Vielleicht darf ich noch zur Kamera ergänzen: Für den Nachtsicht-Assistenten verwenden wir die erste hochdynamische CMOS-Kamera, die volle Automobiltauglichkeit besitzt, also im Temperaturbereich von -40 bis über +85 Grad Celsius arbeitet und bei diesen Temperaturen sehr gute Bilder liefert. Bisher wurden nur so genannte CCD-Kameras eingesetzt, wie sie auch in den Amateur- oder Profikameras eingebaut sind. Unsere Kamera ist spezifisch für diese Applikation entwickelt worden, und zwar so, dass sie über die Funktion im Nachtsichtsystem hinaus auch für neue, darauf aufbauende Anwendungen nutzbar ist, z. B. eine Spurerkennung mit der daraus abgeleiteten Funktionalität „Spurverlassenswarnung“ oder „Spurhaltung“. Wir können mit dieser Kamera aber auch Verkehrszeichen lesen und den Fahrer warnen, wenn er zu schnell fährt, wir können Objekte erkennen, wir können sie in Zukunft auch noch klassifizieren. D. h. wir können dann durch Bildverarbeitung feststellen, ob das erkannte Objekt z. B. ein Fußgänger ist, und können entsprechende Reaktionen am Fahrzeug auslösen.
Dann ist es die erste Anwendung eines frei programmierbaren Kombi-Instruments überhaupt. Damit haben wir die Wahl zwischen der normalen Tachodarstellung eines mechanischen Instruments und einer Bildschirmdarstellung. Wir haben ein Steuergerät mit enormer Leistungsfähigkeit. Es ist ein skalierbares System, d. h. wir können durch zusätzliche Bestückung der Platine die Rechenleistung erhöhen und somit mehrere Funktionen gleichzeitig auf einem Steuergerät laufen lassen. Dies eröffnet die Perspektive auf neue Funktionalitäten, die dann nicht nur bei Nacht dem Fahrer assistieren, sondern auch bei Tag. Die Perspektive heißt, die Funktionalität dieser Systeme noch weiter zu verbessern, um noch umfangreichere Eingriffe in das Fahrzeug vornehmen zu können. Diese gehen bis hin zur automatischen Notbremsung, wenn der Rechner ein unausweichliches Unfallrisiko erkennt, der Fahrer aber nicht reagiert. Dann greift der Rechner ein und bringt das Fahrzeug zum Stillstand. Das ist die Zukunft, aber die erschließen wir in ganz wesentlichen Punkten mit dieser neuen Technik. Nur damit können die Systeme so zuverlässig funktionieren, dass man sich diese harten und sicherheitsrelevanten Eingriffe erlauben kann.
Das System gibt es jetzt in einem Fahrzeug der Oberklasse. Wir wissen ja, dass Basisinnovationen in der Automobilindustrie einen gewissen Zyklus haben und sich erst nach und nach bei den kostengünstigeren Fahrzeugen durchsetzen ...
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Diese Frage, ob Sicherheit ein Privileg von Oberklassefahrzeugen ist, wird und wurde uns immer wieder gestellt - wie auch schon bei der Einführung des ABS, ESP oder des Bremsassistenten. Und da liegt die Antwort auf der Hand: Diese Systeme sind zunächst in der S-Klasse in den Markt gekommen. Und heute findet man sie in sehr vielen Fahrzeugen. Mit einem Rieseneffekt für die Sicherheit. Beim ESP konnten wir mit einer repräsentativen Stichprobenanalyse nachweisen, dass der Anteil der Fahrunfälle neu zugelassener Mercedes-Modelle im Untersuchungszeitraum um mehr als 42 Prozent gesunken ist. Wir haben dieses Jahr den Geniuspreis der Allianz-Versicherung für den Bremsassistenten bekommen. Der ist jetzt etwa zehn Jahre auf dem Markt und konnte seinen Einfluss auf die Verkehrssicherheit schon unter Beweis stellen. Der Nachtsicht-Assistent wird ebenfalls einen Beitrag dazu leisten. Und wir freuen uns natürlich besonders über die ausgesprochen positive Kundenresonanz, die uns zu Weiterentwicklungen ermutigt.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Die Entwicklung ermutigt uns schon sehr weiterzumachen. Zum einen ist es die Statistik über ESP. Durch gleichzeitige Einführung von ESP bei Mercedes-Fahrzeugen war es erstmals möglich, einen Nachweis zu führen, dass solche Sicherheitssysteme einen deutlichen Nutzen bringen. Damit ist auch die Diskussion über die so genannte Risikokompensation, die ja in der Einführungsphase von ABS sehr heftig geführt wurde, vom Tisch: Die Fahrer fahren nicht riskanter, wenn sie solche Systeme an Bord haben. Das Gros verhält sich vernünftig, und die Folge dieser technischen Fahrerunterstützung ist ein deutlicher Rückgang der Unfallzahlen. Auf dieser Basis können wir die Prognose treffen, dass andere Fahrerassistenzsysteme in Zukunft einen ähnlichen Effekt auf die Unfallreduzierung haben werden.
Zum anderen ermutigt uns die gute Akzeptanz des Nachtsicht-Assistenten am Markt. Dies zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Weitere Motivation ist die politische Unterstützung, die wir aus Berlin und aus Brüssel bekommen, wo man sehr großen Wert darauf legt, das Ziel der EU-Kommission zur Halbierung der Zahl der Verkehrstoten bis 2010 und entsprechende Entwicklungen zu unterstützen.
Lassen Sie uns nochmal auf diesen Prozess vom Premiumfahrzeug zum Kleinwagen kommen.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Wie bei anderen Innovationen auch, sind wir in der S-Klasse gestartet. Aber es ist durchaus vorstellbar, dass solche Systeme künftig auch in anderen Mercedes-Baureihen verfügbar sein werden. Und unser Zulieferer Bosch wird diese Technologie seinerseits einem breiteren Markt zugänglich machen.
Sie entwickeln also ganz spezifisch für andere Kunden das System dann auch entsprechend?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Ganz genau.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Der Schlüssel, eine solche Innovation in die Breite zu bringen, ist letztlich die hohe Stückzahl; die streben wir natürlich an. Einerseits aus dem Aspekt der Unfallvermeidung auf breiter Basis heraus, andererseits aus eigenem Interesse als Hersteller dieses Systems. Wir sind auch mit anderen Automobilherstellern im Gespräch und gehen davon aus, dass wir unser System auf eine breite Kundenbasis stellen können.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Über höhere Stückzahlen lassen sich solche Systeme im Lauf der Zeit zu günstigeren Preisen und damit auch in kleineren Fahrzeugen anbieten. Das ist auch wünschenswert. Denn Sicherheit ist kein Privileg. Wenn viele Fahrzeuge mit solchen Sicherheits-Features ausgestattet sind, dann wird sich die Verkehrssicherheit insgesamt verbessern. Das ist in unser aller Interesse.
Bei solchen Entwicklungsprozessen in Großunternehmen geht man ja immer davon aus, dass alles systematisch und ohne größere Probleme über die Bühne geht. Gab es irgendwann mal Höhepunkte oder unerwartete Ereignisse? Waren Sie mal irgendwann drauf und dran zu sagen: Nein, da müssen wir uns jetzt was ganz anderes einfallen lassen?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Es gab sicher Höhepunkte und auch unerwartete Ereignisse. Das Projekt ist derart komplex und wurde in einem so engen Zeitrahmen durchgeführt, dass man durchaus eine Menge spannender Momente erleben konnte. An ein Highlight kann ich mich noch gut erinnern: Als wir das erste Mal die Videokamera mit der neuen Hochleistungsoptik im Fahrzeug bewertet haben, vollführten Kollegen vor Freude Luftsprünge.
Sie waren sich im Entwicklungsprozess immer sicher: Wir kriegen das hin?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Wir haben fest daran geglaubt, dass wir unser Entwicklungsprojekt erfolgreich zur Serienreife bringen. Im Verlauf gab es immer mal wieder Probleme und Rückschläge. Aber Bosch hat in den vielen Jahren, in denen beide Unternehmen Projekte gemeinsam bearbeiten, gelernt, dass wir dann erfolgreich ans Ziel kommen, wenn wir hartnäckig dranbleiben und die notwendige Ausdauer entwickeln. Wir waren zusammen ein sehr gutes Team, wir haben schwierige Situationen erlebt, wir haben immer wieder die Zähne zusammengebissen, und wir haben uns auch gegenseitig motiviert, um das Projekt zum Erfolg zu führen.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Und wir haben ungeheuer motivierte Mitarbeiter. Ohne sie wäre diese Aufgabe nicht lösbar gewesen. Wegen des hohen Innovationsgrades waren unsere Mitarbeiter von dem Thema begeistert. So etwas spornt natürlich jeden jungen Ingenieur an, und sie haben notfalls auch Tag und Nacht gearbeitet, ohne auf die Uhr zu schauen.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Wir sind ja nicht nur an die Grenzen der Technik gegangen, sondern haben diese auch immer mehr erweitert. Und das auch noch in Großserie in einem Umfeld mit sehr hohen Anforderungen - hohe Temperaturunterschiede, Feuchtigkeit und die ganzen Themen, die es im Automobil gibt -, das war schon sehr schwierig. Dann das Ziel, diese hohe Bildqualität und die Konstanz zu haben, die Bildschärfe, die Gegenlichtfestigkeit, das war eine ganz, ganz große Herausforderung. Da gab es - wie Herr Meißner schon sagte - einige Situationen, wo man festgestellt hat: Wir müssen noch kräftig arbeiten.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Typisch für ein Projekt ist: Die Entwicklung bewegt sich immer an der Grenze des Machbaren. Ab und zu überschreitet man auch die Grenze oder findet Technologien vor, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht reif für den Serieneinsatz sind.
Wie viele Leute waren an der Entwicklung beteiligt?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
In Spitzenzeiten rund 60 Entwickler. Insgesamt waren es, wenn man unsere Unterlieferanten noch dazunimmt und die Werke, in denen die Fertigungsvorbereitung gemacht wurde, im Jahr des Serienanlaufs 2005 mehr als das Dreifache, also knapp 200 Mitarbeiter.
Was ist die eigentliche innovative Leistung: die Systemintegration, die Entwicklung zur Serienreife oder die Entwicklung vorher?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Für mich persönlich ist Innovation etwas, wovon der Mensch auch einen Nutzen hat. Und wenn es eine tolle Innovation ist, dann ist innerhalb kurzer Zeit von Innovation gar keine Rede mehr, dann wird die Sache eine Selbstverständlichkeit - wie das elektrische Licht oder das Automobil beispielsweise.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Es fängt im Prinzip bei den Komponenten an. Wir haben neue Technologien und Techniken eingesetzt, neue Darstellungsformen, neue Scheinwerfer und das Ganze zu einem voll funktionsfähigen System zusammengeführt. Das war eine sehr gute Leistung.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Wenn man mit der Optik mal nur ein Detail heraushebt: Die Abbildungsqualität und die Blendfestigkeit - das brachte auch wirklich renommierte Optikfirmen an ihre Grenzen. Die konventionellen Kameras, die Fotografen verwenden, haben nicht diese Blendfestigkeit. Das Basiswissen, das für das Optikdesign genutzt wird, deckt die Anforderungen nicht ab. Und dann muss man dort ganz tief einsteigen.
Dann das Thema CMOS-Imager: Die CMOS-Imager waren vorher noch nicht verfügbar. Wir haben auch die leistungsstarken Prozessoren ins Auto gebracht. Im Prinzip haben wir die Komponenten nicht einfach nur so genutzt, wie sie kamen, sondern wir haben dafür gesorgt, dass sie rechtzeitig kamen.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Wir haben die Kernelemente, die jetzt zu dieser guten Leistung des Nachtsichtsystems führen, im Laufe des Projektes optimiert. Und wir haben uns darum gekümmert, dass kein Element dabei ist, das den erforderlichen Reifegrad nicht hat, denn sonst stürzt das ganze Projekt wie ein Kartenhaus zusammen. Der Nachtsicht-Assistent beinhaltet so viele neue Teile, das haben wir in den letzten zehn Jahren nicht gehabt.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Mit der S-Klasse hatten wir die optimale Plattform zur richtigen Zeit, um das System zu implementieren. Auch das Display mit fotorealistischer Darstellung der Zeiger und gleichzeitig noch mit dem Nachtsichtbild, das ist auch noch mal ein Highlight für sich.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Die Darstellung des mechanischen Instruments auf dem Bildschirm ist schon sehr gut gelungen. Wenn Sie sich in das Fahrzeug hineinsetzen, erkennen Sie nicht, dass das kein mechanisches Instrument ist. Erst beim ganz genauen Hinsehen oder wenn Sie das Nachtsichtsystem einschalten, ist zu erkennen, dass das Zeigerinstrument fotorealistisch auf einem Videodisplay dargestellt wird.
Herr Dr. Seekircher, Sie haben das schon eben aufgegriffen: Innovation - Was versteht denn ein jeder von Ihnen darunter?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Das ist für mich ein relativ oberflächlicher Begriff, denn er wird heutzutage für alle Neuerungen verwendet. Ich persönlich verstehe unter Innovation die geplante und zielgerichtete Erneuerung von Produkten, von Prozessen, von Organisationen, von Abläufen, alles, was zu einem Nutzen am Ende und zu einer Effizienzsteigerung führt. Innovation ist mit dem Ziel verbunden, am Ende etwas Erfolgreiches, Nützliches zu haben.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Für mich als leidenschaftlichen Vorentwickler heißt Innovation natürlich, völlig neue Ideen aufzugreifen, auch Dinge, die auf den ersten Blick nicht als realisierbar erscheinen: mutig rangehen, konsequent bearbeiten, von den Grundlagen her aufbereiten, dann in Richtung Machbarkeit und Produkt umsetzen. Ich glaube, das ist uns bei diesem System gut gelungen, denn da haben wir wirklich Dinge angepackt, von denen wir am Anfang gar nicht so sicher waren, ob sie uns wirklich in dieser Qualität gelingen.
Sie wollen sich ja nicht auf Ihren Lorbeeren ausruhen ... Was haben Sie denn noch alles vor?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Dieses System stellt den Einstieg für die Videotechnik im Automobil dar. Wir wollen natürlich an diesem Punkt nicht stehen bleiben, das wird weiterentwickelt. Ich habe vorher schon erwähnt, dass wir an der Bildverarbeitung arbeiten. D. h. im nächsten Schritt werden wir Objekte, Personen, Tiere durch Bildverarbeitung identifizieren und den Fahrer dann situationsbezogen warnen. Das gibt nochmal eine zusätzliche Funktionalität für das System, es erleichtert dem Fahrer die Benutzung, und er braucht seltener auf den Bildschirm zu schauen.
Wir wollen auch neue Darstellungsformen in Angriff nehmen - sie werden im Nachbarbereich entwickelt, Head-up-Display ist das Stichwort, also Einspiegelung von Information in die Windschutzscheibe. Man muss sehr sparsam mit Informationen im primären Sichtfeld umgehen, man darf es nicht überlasten, mit Informationen überfrachten, sonst wird der Fahrer dadurch abgelenkt, und man erreicht genau das Gegenteil von dem, was man möchte. Aber für Warnungen bietet es sich an, ein rotes Licht oder irgendein Symbol in die Windschutzscheibe einzublenden, um den Fahrer darauf hinzuweisen: Vorsicht, jetzt hat mein Sichtsystem ein relevantes Hindernis erkannt.
Und dann gibt es die ganze Palette von videobasierten Funktionen zusammen mit anderen Sensoren. Da bietet es sich an, Radar und Video miteinander zu verknüpfen. Die beiden Systeme ergänzen sich sehr gut. Ein Radargerät kann Entfernungen sehr schnell und hochpräzise messen, aber keine Aussage darüber machen, um welche Art von Hindernis es sich handelt. Hier schauen wir mit der Videokamera hin und können sagen: „Aha, das ist nur ein kleiner Gegenstand auf der Straße, also weiterfahren" oder “Vorsicht, hier ist ein Fußgänger auf der Fahrbahn". Dann ist eine akute Warnung fällig oder sogar ein automatischer Eingriff in die Bremse.
Der Weg ist aber noch lang, wir reden von Zeiträumen von 15 oder 20 Jahren, bis so etwas vollständig umgesetzt ist. Aber jetzt schaffen wir die Basis dafür.
Lassen Sie uns auf die wirtschaftliche Komponente dieser Innovation kommen: Im Moment hat nur die S-Klasse den Nachtsicht-Assistenten. Ist das nachahmbar?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Wir sind die Ersten am Markt, aber andere Firmen haben das Potenzial dieses Systems auch erkannt und entwickeln intensiv daran.
Es ist aber durch Patente so weit geschützt ...
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Wir haben eine gute Patentsituation. Beide Häuser zusammen haben etwa 150 Patente auf dem Gebiet der Videosysteme und Nachtsichtsysteme, und wir sind natürlich wachsam, dass wir unseren technischen Vorsprung gegenüber unseren Wettbewerber halten.
Von welchen Stückzahlen reden wir im Moment, und wie kann sich das entwickeln?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Derzeit bedienen wir die S-Klasse. Die Nachfrage ist deutlich höher als erwartet. Wir gehen davon aus, dass sich das für dieses Fahrzeug so fortsetzt. Letztendlich wird man den Markt betrachten müssen: dort, wo es noch Fahrzeuge mit Displays gibt, die ein Nachtsichtsystem dann einsetzen können.
Was könnte sich da an Arbeitsplätzen auch in der Zulieferindustrie ungefähr entwickeln?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Schauen wir uns doch mal die Entwicklung der Stückzahlen an: Wir rechnen mit einem relativ schnellen Anstieg in Europa. USA wird folgen. Indikator ist das hohe Interesse aller Automobilhersteller, die nach dem erfolgreichen Serienanlauf des Nachtsicht-Assistenten auf uns zukommen. Auch unsere Wettbewerber sind aktiv. Es wird also mehrere Lieferanten geben. Das ist der gewünschte Wettbewerb, der ist auch gesund. Für die USA liegt uns eine Studie vor, die davon ausgeht, dass ab 2007 die Stückzahlen hochlaufen werden. Die Amerikaner sind primär ja eher konservativ im Einsatz solcher Systeme und kommen dann zwei, drei Jahre zeitversetzt nach den Europäern, dafür aber mit hohen Stückzahlen.
Wenn ich mal eine Prognose machen darf: Für den Zeitraum von zehn bis 15 Jahren gehen wir schon davon aus, dass wir im Bereich von einigen hunderttausend Systemen liegen. Das wird viele Arbeitsplätze schaffen. Dies kann man aber nicht allein auf das Nachtsichtsystem beziehen, weil ja Zusatzfunktionen hinzukommen. Die Nachtsichtfunktion ist dann Teil eines Gesamtsystems mit mehreren videobasierten Funktionen.
Es wäre jedoch sehr mutig, jetzt schon die Zahl der späteren Arbeitsplätze abschätzen zu wollen; wir sind erst am Anfang der Entwicklung.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Es sind die Augen des Autos, an denen wir arbeiten. Die Verkehrsinfrastruktur ist optisch zentriert, und da wird sich auf dem Gebiet der Kameras sicherlich sehr viel tun: Komfort, Fahrerentlastung, Sicherheitserhöhung. Ich bin optimistisch - auch was Arbeitsplätze angeht.
Die Automobilindustrie ist eine Schlüsselindustrie. Wie schätzen Sie die Innovationsfähigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen Industrie ein, und wie sehen Sie das im internationalen Vergleich?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Ich würde sagen: Ob ein Land in der Innovation und im Erfolg stark oder schwach ist, das hängt von den einzelnen Menschen ab und da wiederum von den Wertmaßstäben, die die Menschen haben. Was bewegt einen Menschen, was motiviert ihn? Was bringt ihn dazu, etwas zu tun oder nicht zu tun? Da denke ich, hat Deutschland einen guten Start. Bei uns gibt es ja die berühmten klassischen Tugenden, z. B. Bescheidenheit, Fleiß, Ehrlichkeit, Respekt vor den anderen, Fairness im Umgang miteinander. Das sind für mich ganz, ganz wichtige Tugenden. Und in dem Moment, in dem diese Tugenden an Attraktivität verlieren oder als altmodisch gelten und wir uns davon entfernen, bewegen wir uns auf einem schlechten Weg. Dann müssen wir deutlich umkehren, diese inneren Werte wieder verstärken, und dann - da bin ich überzeugt - haben wir einen sicheren, vorderen Platz. Wenn wir das aber nicht tun, dann werden es andere tun. Der Erfolg kommt nicht von allein, Erfolg muss man sich erarbeiten.
Kannten Sie sich vor Beginn des Projektes, oder haben Sie sich erst in Laufe der Arbeiten kennen gelernt?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Prof. Knoll ist an der Universität Karlsruhe eine bekannte Persönlichkeit. Da ich von der Uni Karlsruhe komme, kannte ich ihn bereits von dort.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
So richtig kennen gelernt haben wir uns aber erst in diesem Projekt. Wir waren von Anfang an zusammen, haben das Projekt miteinander angeschoben. Herr Meißner ist als erfahrener Serienentwickler später hinzugekommen und hat dann das Projekt sehr gut gemanagt.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Vor ziemlich genau drei Jahren bin ich zum Projekt dazugestoßen. Wir haben uns von Anfang an gut verstanden. Als ich dann gesehen habe, was da auf mich zukommt, dachte ich: „Das ist schon eine kleine Herausforderung!“
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Wir haben eine sehr konstruktive Streitkultur entwickelt. Eines ist klar: Wenn zwei Projektpartner zusammenkommen, dann sind sie nicht immer derselben Meinung. Das ist ganz natürlich, das ist nichts Bösartiges oder Persönliches, sondern das ist einfach so, und man muss sehen, wie man damit umgeht. Und das hat Herr Meißner auch ganz erfolgreich gemanagt.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Das Wichtigste ist zum einen die Kommunikation, zum anderen, dass sich die Leute untereinander verstehen. Das ist nicht immer einfach. Uns ist es gelungen, unser Super-Team trotz der unterschiedlichen Sichtweisen zusammenzuhalten.
Wollten Sie schon immer entwickeln, bauen, strukturieren? Was wollten Sie als Kind werden?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Ich wollte Architekt werden. Das war damals der einzige ingenieurähnliche Beruf, den ich kannte. Mittlerweile weiß ich: Es ist gut, dass ich Ingenieur geworden bin. Denn der Architekt ist auch ein Künstler. Ich interessiere mich zwar für Musik und Kunstgeschichte, aber als aktiver Künstler wäre ich vielleicht nicht so gut, wie ich als Ingenieur bin. Mit 15 Jahren wusste ich: Ich werde Elektro- und nicht Maschinenbauingenieur. Denn die Computertechnik eröffnete einem damals schon mehr Möglichkeiten. Schließlich kommt Ingenieur ja nicht von „engine“, sondern von „ingenium“, von „Geist“.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Als Kind hat man sicher sehr viele Träume, ich auch. Ich habe mich schon immer für Technik interessiert, besonders für die Luftfahrt, und habe auch mit Raketen gespielt. Das hat mich auch letztlich dahin getrieben, dass ich das Studium der Luft- und Raumfahrttechnik begonnen und abgeschlossen habe. Nur war es zu der damaligen Zeit so, dass man keine Arbeitsstellen in dieser Branche bekam. Deshalb habe ich mich mit dem Thema „Angewandte Regelungstechnik“ beschäftigt. So bin ich über die angewandte Regelungstechnik und die Verbindungen, die sich darüber ergeben haben, zur Kraftfahrzeugtechnik gekommen. In der Forschung von DaimlerChrysler habe ich meine Diplomarbeit gemacht und mich mit regelungstechnischen Fragen auseinander gesetzt. 1984 habe ich bei Bosch angefangen.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Ich hatte als Kind die üblichen Phasen: Lokomotivführer, Flugzeugführer, und war dann - angeregt durch meinen damaligen Mathematik- und Physiklehrer - fasziniert von der Physik. Ich hatte unheimlich Glück mit meinem Lehrer. Ich bin in Rom zur Schule gegangen, kleine Klassen und sehr gute Lehrer. Für mich war klar: Ich werde Physiker! Einstein hat mich fasziniert und seine Thesen zur Astronomie. Nach dem Abitur kam ich zur Bundeswehr in eine technische Einheit, war mit Radartechnik befasst und habe festgestellt, dass mir die elektrotechnische Praxis vielleicht doch mehr liegt als die ganz abstrakte, trockene Physik. Nach der Bundeswehr habe ich mein Studium begonnen. Weil ich mir zu dem Zeitpunkt immer noch nicht ganz klar war, für welche Fakultät ich mich entscheiden sollte, habe ich zwei Semester Elektrotechnik parallel zur Physik studiert. Ich habe mich danach doch für die reine Elektrotechnik entschieden und es bis heute nicht bereut. Ich habe aber nach wie vor ein sehr großes Interesse an der Physik und bin bestrebt, mich möglichst breit aufzustellen und auch die Physik noch mit im Auge zu haben.
Mein Vater war Universitätsprofessor. Für ihn war immer das Erstrebenswerte am Professorenamt gewesen, dass man keinen Chef hat und wissenschaftlich machen kann, was man will. Das hat mir natürlich sehr imponiert. Das hat mich inspiriert, ebenfalls die Hochschullaufbahn zu probieren. Dabei habe ich mich auf dem Gebiet der Flüssigkristalle habilitiert. Eigentlich wollte ich nur kurz in die Industrie und dann wieder zurück an die Uni. Aber dann hatte Bosch immer so viel Interessantes zu bieten, und man hat mir immer sehr viele Freiheiten gelassen. Die Möglichkeiten in der Industrie, die finanziellen und gerätemäßigen Ausstattungen, sind deutlich besser. Und so kombiniere ich beides miteinander: Hauptamtlich arbeite ich bei Bosch, daneben halte ich regelmäßig Vorlesungen an der Universität Karlsruhe. Es bereitet mir sehr viel Spaß, mit Studenten zu arbeiten.
Gab es irgendwelche Vorbilder oder Ereignisse, die Ihre berufliche Laufbahn stark beeinflusst haben?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Die Neigung zur Technik ist mir wohl angeboren. Im Alter zwischen drei und fünf Jahren habe ich alles auseinander gebaut, was mir unter die Finger kam. Zwischen fünf und zehn habe ich diese Sachen dann wieder zusammengebaut. Als ich lesen konnte, verschlang ich Biographien von Erfindern und Forschern. Dann hatte ich das Glück, einige technikinteressierte Lehrer zu haben und in meiner Jugendzeit in meinem Ort einige Ingenieure kennen zu lernen, die sehr intensiv auf ihrem Fachgebiet gearbeitet haben und mich daran teilnehmen ließen. Das waren für mich schon die ersten Vorbilder. Ich habe mir immer gesagt: Mensch, das ist doch eine prima Sache - was die können, was die machen, was die wissen. Meine Eltern und mein Bruder ließen mich immer viel experimentieren und Erfahrungen sammeln. Das förderte meine Entwicklung. Dann hatten wir hervorragende Professoren in Karlsruhe, und ich bin heute noch sehr dankbar für die Ausbildung, die ich dort genossen habe. Die hat mich mein ganzes Leben lang nicht im Stich gelassen.
Zwar stehen wir immer wieder vor neuen Themenfeldern, und wir erschließen immer wieder Neues. Aber die Grundlagen sind alle da, man muss nur in die Kiste greifen, sich an Karlsruhe erinnern und daran anknüpfen.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Vorbilder für mich waren meine Eltern, die für die Familie alles aufgebaut und alles Mögliche getan haben. Sie schufen die Voraussetzungen, dass mein Bruder und ich studieren konnten. Letztendlich hat mich dieses Verhalten bis heute geprägt. Während des Studiums gab es sicher ein paar kleinere Ereignisse, die meine Entwicklung mit geprägt haben, so dass ich auch in der Lage war, Themen anzufassen, ohne zu wissen, was am Ende dabei herauskommt. Die vielen positiven Erlebnisse, die ich während dieser Zeit hatte, haben meine Person sicher geprägt. Aber es gibt nicht die herausragende Person, die mir Vorbild war.
Welche Charaktereigenschaften haben Ihnen geholfen, und welche waren hinderlich?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Ungeduld, ich bin sehr ungeduldig. Das ist Antrieb und Last gleichzeitig!
Korreliert das mit Ihren musischen Neigungen?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Ob das korreliert, weiß ich nicht. Meine Neigung geht ganz klar zur Technik, auch wenn ich sehr gerne klassische Musik höre und mich gerne an Kunst erfreue. Meine Persönlichkeit würde ich so bezeichnen: Ich bin Vollblut-Ingenieur und Christ, aber ich bin ungeduldig. Es gibt auch ganz geduldige Ingenieure. Aber ich gehöre leider nicht dazu.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Ich bin ungeheuer neugierig und versuche, den Sachen gründlich und tief nachzugehen. Ich glaube, das hat sich in vielen Fällen als positive Eigenschaft herausgestellt. Ich bin auch sehr ungeduldig und verliere - das ist vielleicht mein Schwachpunkt - auch schnell das Interesse an Dingen, wenn sie zur Routine werden. Ich bin eben leidenschaftlicher Vorentwickler und greife lieber wieder ein neues Thema auf, als Dinge wirklich bis ins letzte Detail zu Ende zu führen.
Sie brauchen jemanden hinter sich, der das zum guten Ende bringt?
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Deshalb bin ich sehr zufrieden, dass Herr Meißner mit seiner Erfahrung zum Team dazugestoßen ist, um das Projekt zur Serienreife zu führen. Das sollte immer derjenige machen, der es am besten kann.
Demnach, Herr Meißner, ist Geduld eine Ihrer herausragenden Eigenschaften?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Ja und nein! Auf der einen Seite glaube ich, dass ich tolerant bin, dass Kollegen im Team eine sehr große Spanne dieser Toleranz nutzen können. Und ich denke, mir hilft in meiner Rolle als Projektleiter eine gewisse Gelassenheit, mit schwierigen oder katastrophalen Situationen umzugehen. Das hilft mir, bei kritischen, engen Zeiträumen zurechtzukommen. So wie ich damit umgehe, hilft es vielleicht auch den anderen. Sicher helfen mir auf der anderen Seite auch die Charaktereigenschaften, Herausforderungen zu suchen, eine gewisse Risikobereitschaft und die Fähigkeit, mit dem Risiko recht gut umgehen zu können.
Herr Dr. Seekircher, gibt es ein Motto für das, was Sie tun?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Schwierig! Vielleicht “„Gemeinsam mit Kompetenz, Konsequenz und Kontinuität zum Erfolg“. Aber ob das ein gemeinsames Motto ist? Eher eine Lebenshaltung.
Was tun Sie gegen Stress, wie entspannen Sie sich? Was gibt es außer der Entwicklung solcher Systeme noch in Ihrem Leben?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
In meiner Freizeit habe ich noch Lehrveranstaltungen für Studenten an der Berufsakademie in Stuttgart. Dann bin ich noch als bewusst lebender Christ in der Kirchengemeinde und auch im Bezirk tätig. Das ist mir auch sehr wichtig.
Ansonsten bin ich auch in meiner Freizeit ein Vollblut-Ingenieur. Ich interessiere mich sehr für Technik - für neue, künftige und auch für alte. Und da haben wir schon wieder die Beziehung zur Geschichte. Geschichte ist ganz spannend. Man kann sehr viel daraus lernen, z. B. wie man Dinge gut macht und dass man am besten aus den Fehlern anderer lernt. Auch Kunstgeschichte interessiert mich. Und wenn es ganz entspannt sein soll, gleite ich gerne in einem schönen Mercedes mit schöner Musik - Bach oder Mozart - durch den Schwarzwald.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Ich reise sehr gerne. Ich teile diese Leidenschaft mit meiner Frau. Ich sammle Fotoapparate und Mikroskope, restauriere sie auch. Ich habe eine große Leica-Sammlung. Dann schreibe ich Bücher, zum Teil Fachbücher, aber auch wissenschaftshistorische. Ich hatte das ungeheure Glück, über verschlungene Wege an einen Nachlass eines bekannten Forschers zu kommen: Prof. Lehmann, er war Nachfolger von Heinrich Hertz in Karlsruhe auf dem Physiklehrstuhl. Sein Sohn war einer meiner Doktorväter. Über ihn bin ich an den historischen Nachlass seines Vaters gekommen, im Wesentlichen ein paar Kisten mit Chemikalien. Darunter war aber auch ein wunderschönes Mikroskop, das ich aufpoliert habe. Und der eigentlich historische Schatz war eine Mappe mit Briefen, aus der ich die Entdeckungsgeschichte der Flüssigkristalle vollkommen rekonstruieren konnte. Darüber habe ich ein Buch geschrieben, in dem natürlich auch die Person Lehmann einen würdigen Platz fand. In diesem Nachlass waren Briefe von Einstein, einer hängt über meinem Schreibtisch, und von vielen anderen Nobelpreisträgern. An Lehmann hat mich eines sehr beeindruckt: Ihn faszinierte die Entdeckung eines anderen Wissenschaftlers so sehr, dass er sich den Rest seines Lebens damit beschäftigt und sich mit einer unglaublichen Zähigkeit gegen viele skeptische Kollegen durchgesetzt hat. Aus dieser Geschichte habe ich sehr viel gelernt.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Bei mir sieht das etwas anders aus: Ich habe zwei Söhne - fünf und neun Jahre alt -, da widme ich meine gesamte Freizeit meiner Frau und meinen Kindern.
Welchen Traum möchten Sie sich noch erfüllen?
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Mein Traum ist, auch künftig herausfordernde Projekte bearbeiten zu können.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Meine erste Leidenschaft ist Reisen - ich möchte bald einmal um die Welt reisen. Dann möchte ich gerne meine Lehrtätigkeit an der Universität Karlsruhe ausbauen. Ich habe mir vorgenommen, weitere Vorlesungen über Fahrerassistenzsysteme anzubieten, weil wir viele gut ausgebildete Fachkräfte auf diesem Gebiet brauchen werden.
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Mein Traum ist es, viele schöne Assistenzsysteme zu entwickeln und in Serie bringen, die das Fahren in unseren schönen Mercedes-Fahrzeugen noch angenehmer, noch komfortabler und noch sicherer machen.
Herr Dr. Seekircher, gibt es ein Motto für das, was Sie tun?
Dr.-Ing. Jürgen Seekircher
Ich denke, es ist ein großes Glück, dass wir hier in Deutschland leben können, in Frieden, Freiheit, Sicherheit. Im weltweiten Vergleich ist das ein Riesenglück. Und ich setze mich dafür ein, dass wir diesen Zustand stabil und lange aufrechterhalten können.
Prof. Dr.-Ing. habil. Peter M. Knoll
Es sieht bei mir ganz ähnlich aus: In Deutschland leben zu können ist wirklich ein Glück. Fünfzig Jahre ohne Krieg - da gab es natürlich schon ganz andere Zeiten. Der zweite Punkt ist, auch in Zukunft immer eine schöne, interessante Aufgabe zu haben. Dieses Glück war mir bisher hold, und ich bin sehr froh darüber.
Dipl.-Ing. Manfred Meißner
Im Prinzip ist fast alles gesagt. Ich denke, eines würde ich noch hinzufügen: Glück ist für mich gleichbedeutend mit einem harmonischem Familienleben, und natürlich auch mit Gesundheit. Und um das Ganze abzurunden, wünsche ich mir für die Zukunft, interessante, herausfordernde Aufgaben zu haben.